Aus: junge Welt Ausgabe vom 24.08.2020, Seite 12 / Thema
Lasst Bismarck auf dem Sockel
Plädoyer für einen
dialektischen Umgang mit der Geschichte
Von Nick Brauns
Im Zuge der »Black Lives Matter«-Bewegung wurden
in mehreren Staaten Denkmäler von Sklavenhändlern und Kolonialisten gestürzt,
in einem Hafenbecken versenkt, mit Farbe verziert oder ins Museum verbannt. In
Deutschland sind die zahlreichen Denkmäler für Reichsgründer Otto von Bismarck
in die Kritik antikolonialer und antirassistischer Aktivisten geraten.
Insbesondere die Sanierung des den Hamburger Stadtteil Sankt Pauli überragenden
Bismarck-Denkmals hat zu Protesten geführt. Nun ist es unzweifelhaft, dass die
neun Millionen Euro, die für die Pflege des Kolosses veranschlagt werden, an
anderer Stelle etwa im Bereich der antifaschistischen und antikolonialen
Gedenkkultur sinnvoller angelegt wären. Dennoch erscheint der heute von Seiten
der radikalen Linken mit der historischen Persönlichkeit Bismarck gepflegte
Umgang weithin als ahistorischer und moralisierender Rückfall hinter frühere
Erkenntnisse der marxistischen Geschichtsforschung.
»Ein Staatsmann von hohem Rang« – so lautete im Februar 1983 die Überschrift
eines vielbeachteten Artikels über Bismarck in der Jungen Welt. Der
Beitrag von Heinz Wolter vom Zentralinstitut für Geschichte der Akademie der
Wissenschaften der DDR hatte den Anspruch, einen dialektischen Blick auf den
»Eisernen Kanzler« zu werfen. Denn bis weit in die 70er Jahre hatte eine
sowjetische Broschüre mit dem Titel »Marx und Engels über das reaktionäre
Preußentum« aus dem Jahr 1942 das Preußen- und damit auch Bismarck-Bild der DDR
bestimmt. Die darin vorgenommene Totalverurteilung Preußens diente der
Legitimation der antifaschistischen Staatsräson der DDR. Anfang der 80er Jahre
jedoch war die DDR-Geschichtswissenschaft daran interessiert, den
sozialistischen Staat in die Traditionslinien deutscher Geschichte einzuordnen.
Dafür war eine differenzierte Neubewertung von historischen Persönlichkeiten
wie Martin Luther, Friedrich II. und eben auch Bismarck geboten, deren Erbe
nicht allein dem westdeutschen Klassenfeind überlassen werden sollte.
So lobte Wolter den »Realpolitiker« Bismarck, dem es gelungen war, »sich
mit dem Prozess der bürgerlichen Umgestaltung zu arrangieren, der im 19.
Jahrhundert in Deutschland auf der Tagesordnung stand« – wenn auch dieses
Arrangement nur »auf junkerlich-preußische Weise« zustande gebracht wurde.
Betont wurde zudem »Bismarcks realistische Einsicht, es niemals zum Kriege mit
Russland kommen zu lassen«. Negativ rechnete Wolter dem Reichskanzler die
Innenpolitik mit dem Verbot der Sozialdemokratie durch das Sozialistengesetz
und der in Reaktion auf die Arbeiterbewegung erfolgten Sozialgesetzgebung an,
mit der sich Bismarck die Staatstreue der Lohnabhängigen erkaufen wollte. Aber
»solange sich Bismarck im Einklang mit historischen Notwendigkeiten befand«,
verdiene er Anerkennung, lautete das zusammenfassende Urteil des
Zentralinstituts. Darauf aufbauend folgte 1985 der erste Band der
bahnbrechenden, auch in der BRD gelobten Bismarck-Biographie des
DDR-Historikers Ernst Engelberg. »Der königlich-preußische Revolutionär
Bismarck war, wie ihm selbst Karl Marx zugestand, Testamentsvollstrecker der
Revolution von 1848, zugleich aber auch Bewahrer ihrer Konterrevolution,
insofern er die Prärogative (Vorrechte, jW)
der Krone allzeit entschlossen verteidigt hatte«, lautete Engelbergs Fazit.
Damit bewegte sich der Marxist Engelberg im Rahmen der Einschätzungen der
sozialistischen Klassiker. So hatte Karl Marx den Kanzler zwar im Eifer des
Gefechts schon mal als »Pissmarck« tituliert. Doch
bei aller Gegnerschaft gegen die Innenpolitik des reaktionären
Sozialistenfressers erkannten Marx und Engels in Bismarck »einen Agenten des
Hegelschen Weltgeistes«. So brachte es der Historiker Johannes Willms in einer
Rezension der Engelbergschen Bismarck-Biographie auf
den Punkt.
Bismarck habe »in seiner Art auf junkerliche Weise, eine historisch
fortschrittliche Sache vollbracht«, lautete entsprechend Lenins Urteil. Die
Reichsgründung im Jahr 1871 war in der Tat ein bedeutender Fortschritt
gegenüber der vorangegangenen feudalen Kleinstaaterei. Denn diese hatte die
deutschen Einzelstaaten zum Spielball ausländischer Großmächte gemacht und die
ökonomische Entwicklung gehemmt. Letztlich war die Reichseinigung auch
Voraussetzung für das quantitative wie qualitative Wachstum der
Arbeiterbewegung.
Zwar gibt es heute einige sich für Linke haltende Zeitgenossen, die mit
Blick auf die Verbrechen des imperialistischen Deutschland im 20. Jahrhundert
die Gründung des deutschen Nationalstaates an sich schon als welthistorisches
Unglück betrachten. Die Verbreiter solch historisch abwegiger
Bewertungen/Einschätzungen übersehen freilich, dass die nationalen Einigungskämpfe
in Europa und Amerika »nur politische Konsequenzen aus der industriellen
Revolution« waren, was Engelberg ebenso klargestellt hat wie dass sich Bismarck
als Vollstecker des nationalstaatlichen Anspruchs der deutschen Revolution »im
Strom der allgemeinen Geschichte seiner Zeit« bewegte. Indem die Reichseinigung
allerdings nicht durch das ängstliche demokratische Bürgertum oder die noch
schwache sozialistische Arbeiterbewegung von unten, sondern durch den Junker
Bismarck mit dem Schwert von oben vollzogen wurde, bekam das neugegründete
preußisch-deutsche Reich von Anfang an einen militaristischen und
antidemokratischen Charakter. Die mit der Reichsgründung einhergehende Annexion
der rohstoffreichen französischen Provinzen Elsass und Lothringen erwies sich
als schwere Hypothek in der Außenpolitik.
Kolonialist Bismarck?
In die Kritik geraten ist Bismarck in jüngster Zeit vornehmlich als
Kolonialpolitiker. Nun ist es zwar richtig, dass unter seiner Kanzlerschaft die
Grundlagen für das deutsche Kolonialreich gelegt wurden. Unter Bismarcks
Schirmherrschaft tagte zudem 1884/85 die sogenannte Kongokonferenz in Berlin,
auf der dreizehn europäische Staaten, die USA und das Osmanische Reich über die
Köpfe der Afrikaner hinweg die koloniale Aufteilung des afrikanischen
Kontinents verhandelten. Doch eigener kolonialer Eifer kann Bismarck dabei nur
schwer nachgesagt werden, bei der Anerkennung von Handelsstützpunkten als
koloniale Besitzungen war er eher Getriebener der Großindustrie und Banken als
treibende Kraft. Nicht humanistische Überlegungen, sondern die Sorge, durch
kolonialen Erwerb Händel mit den anderen Großmächten zu provozieren, waren
dabei der Grund seiner Skepsis gegenüber dem Kolonialismus. »Ihre Karte von
Afrika ist ja sehr schön, aber meine Karte von Afrika liegt hier in Europa.
Hier liegt Russland und hier liegt Frankreich, und wir sind in der Mitte. Das
ist meine Karte von Afrika«, kanzelte Bismarck 1888 den Wunsch des Afrikaforschers Eugen Wolf ab, eine Expedition in die
ägyptische Äquatorialprovinz zu schicken. »Nach 1871
betrieb Bismarck eine Politik des europäischen Gleichgewichts, beruhend auf dem
Prinzip der territorialen Saturiertheit, des neugegründeten Reiches. Dem
Sicherheitsbedürfnis auf dem Kontinent ordnete er auch den kolonialen
Expansionismus unter, dem er mehr unter dem Druck von Interessenten und
Ideologen eine Zeit lang nachgab. Er warnte jedoch vor einer ›Weltpolitik‹, die
mächtige Gegenbündnisse heraufbeschwören könnte und schließlich auch
heraufbeschwor«, heißt es bei Engelberg.
Widerspruchsvolle Persönlichkeit
Ein Denkmal fordert schon dem Begriff nach in erster Linie zum Denken auf.
Das unterscheidet es von Straßennamen. Letztere tragen durch ihren täglichen
Gebrauch zur unkritischen Gewöhnung an die Namensgeber bei – selbst wenn es sich
um Kolonialschlächter wie Carl Peters oder Steigbügelhalter des Faschismus wie
Paul von Hindenburg handelt. Während also bei Straßennamen eine gründliche Entkolonisierung zwingend ist, bietet sich bei Denkmälern
ein differenzierter Umgang jenseits von unkritischer Verehrung und
geschichtsvergessenem Sturz an. Es sollte darum gehen, Statuen von historischen
Persönlichkeiten kritisch zu kommentieren, um so auch zu einer Beurteilung der
Gegenwart zu gelangen – als Voraussetzung für die Veränderung bestehender
ausbeuterischer und unterdrückerischer Strukturen.
Bismarck war – wie es in einem 1986 von Heinz Wolter herausgegebenen
Dokumentenband über sein Leben heißt – »eine widerspruchsvolle Persönlichkeit,
ebenso zur Bewunderung herausfordernd wie zu unnachgiebiger Anklage. Weder ein
nationaler Messias noch ein dämonischer Einzeltäter, dem alle Verantwortung für
den verhängnisvollen Verlauf der preußisch-deutschen Geschichte persönlich
angelastet werden darf«. Bismarck war ein klassenbewusster ostelbischer Landadeliger,
der als Gründer des Nationalstaates revolutionär handelte; er war der Todfeind
der Arbeiterbewegung und Vater der Sozialversicherung; er war Repräsentant des
preußischen Militarismus und leistete nach 1871 dennoch einen bemerkenswerten
Beitrag zur Stabilisierung des Friedens in Europa. Den schon zu seinen
Lebzeiten um ihn entbrannten Kult lehnte der bodenständige Preuße übrigens ab.
»Auf Titel und Orden habe ich niemals großen Wert gelegt, so wenig wie auf
Denkmäler, die man mir errichtet hat und errichten will; ich will weder ein
Schaustück sein noch mich versteinert oder am wenigsten bei Lebzeiten als Mumie
sehen.« Heute allerdings wäre es angesichts der Einkreisung Russlands durch die
NATO ein fatales Signal, ausgerechnet Statuen des Staatsmannes zu stürzen,
dessen außenpolitisches Streben im Gegensatz zu seinen Nachfolgern primär
darauf gerichtet war, es niemals zu einem Krieg Deutschlands mit Russlands
kommen zu lassen. In Sinne einer dialektischen Erinnerungskultur sollte
Bismarck daher auf seinem Sockel bleiben.