Die Macht im Hintergrund

Was steckt hinter den Ermittlungen gegen die Verschwörergruppe Ergenekon in der Türkei?

In der Türkei vergeht kaum ein Tag, an dem nicht neue mutmaßliche Mitglieder der nationalistischen Verschwörergruppe Ergenekon verhaftet oder umfangreiche Waffenfunde gemeldet werden.

Am 7. Januar 2009 fand die Polizei in der Wohnung des ehemaligen Vizechefs einer Polizeispezialeinheit, Ibrahim Sahin, Lagepläne für Waffenlager sowie Listen mit den Mitgliedern von Todesschwadronen. Diese Pläne führten vergangen Donnerstag zur mittlerweile 13. Verhaftungswelle, bei der 26 Personen in 13 Provinzen festgenommen wurden, darunter 20 Polizisten und Soldaten. Bei den Razzien wurden auch Vorstandsmitglieder der Türkischen Metallarbeitergewerkschaft in Ankara festgenommen. Die kemalistisch ausgerichtete Gewerkschaft steht laut Informationen der Tageszeitung Zaman im Verdacht, Ergenekon finanziell unterstützt haben soll.

Ausgelöst wurden die Ermittlungen gegen Ergenekon nach der Entdeckung von Handgranaten im Haus einen hohen Offiziers im Ruhestand im Juli 2007. Die Waffenfunde führten in den letzten 1 ½ Jahren zur Festnahme von über 100 Militärs, nationalistische Journalisten, Rechtsanwälten, Politikern und Mafiosi. Sie sollen geplant haben, durch Mordanschläge auf führende Politiker sowie alevitische und armenische Repräsentanten Chaos hervorzurufen, um so einen Militärputsch vorzubereiten. So soll der vor zwei Jahren in Istanbul ermordete armenische Journalist Hrant Dink ein Opfer von Ergenekon geworden sein. Seit dem 20. Oktober 2008 läuft in Silivri bei Istanbul ein Prozess gegen 86 mutmaßliche Verschwörer.

In Haft ist auch Generalmajor a.D. Levent Ersöz, der während der 90er Jahre in der kurdischen Provinz Sirnak ein Schreckensregime errichtet hatte und noch 2001 für das "Verschwinden" der Politiker der kurdischen HADEP-Partei Serdar Tanis und Ebubekir Deniz verantwortlich war. Ein früherer Kommandant des berüchtigten Gendarmeriegeheimdienstes JITEM, Oberst Abdülkerim Kirca, beging vergangenen Montag Selbstmord nach Zeitungsmeldungen über seine Verantwortung an Hunderten ungeklärten Morden an kurdischen Aktivisten während der 90er Jahre. Zwar nahm Generalstabschef Ilker Basbug demonstrativ an der Beerdigung des Oberst teil, doch ansonsten hält sich die Armeespitze selbst bei der Verhaftung hoher Offiziere in der Ergenekon-Affäre auffällig zurück.

Der bekannte Publizist Hasan Bildirici vermutet daher eine "stärkere Macht" hinter den Operationen als nur die islamisch-konservative Regierung Erdogan. Die USA, EU und Israel "benutzen also nun die türkische Justiz um Ordnung in einer Türkei herzustellen, die durch Militarismus, Schwerfälligkeit und Ideologie verknöchert ist", so Bildirici in einer Analyse der Onlinezeitung Kurdistanpost "Das westliche Bündnis will die Türkei als ihren Wehrturm im Nahen Osten völlig nach ihren eigenen Bedürfnissen neugestalten. ... Wichtig ist nur, dass die Hindernisse aussortiert werden. Das ist die übliche Arbeitsweise von Finanz- und Industrie-Imperien." Als neuer Agent des Westens dient dabei die AK-Partei mit der von ihr vertretenen türkisch-islamischen Synthese.

Obwohl die Wurzeln von Ergenekon in den seit den 50er Jahren in der Türkei bestehenden Strukturen des paramilitärischen NATO-Geheimdienstes Gladio und der daraus hervorgegangenen Konterguerilla der 90er Jahre liegen, stehen die führenden Verschwörer für eine antiwestliche Politik. So forderte der verhaftete frühere Generalsekretär des Nationalen Sicherheitsrates der Türkei, General a.D. Tuncer Kilinc, die Türkei solle aus der NATO austreten und enge Beziehungen mit Rußland und dem Iran suchen.

Nick Brauns

Gekürzt veröffentlicht in junge Welt 24.1.2008