Junge Welt 12.08.2014
/ Schwerpunkt / Seite 3
Erdogan wird Präsident
Bisheriger türkischer Premierminister gewinnt Wahl zum
Staatsoberhaupt im ersten Wahlgang – Achtungserfolg für linken Kandidaten
Selahattin Demirtas
Von Nick
Brauns
Recep Tayyip Erdogan hat die Wahl zum Staatspräsidenten am
Sonntag bereits im ersten Wahlgang mit der notwendigen absoluten Mehrheit
gewonnen. In der ersten Direktwahl für das höchste Staatsamt in der Geschichte
der Türkei stimmten nach Angaben der Wahlkommission 51,96 Prozent der Wähler
für den bisherigen Premierminister und Vorsitzenden der islamisch-konservativen
Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP). Kurz vor Mitternacht verkündete
er dann in der Hauptstadt Ankara in einer Balkonrede vor Tausenden
AKP-Anhängern den Beginn einer »neuen Ära« der Türkei. Erdogan versprach die Fortsetzung
des Friedensprozesses mit den Kurden und verhieß einen »nationalen Versöhnungsprozeß«. Explizit nahm er hiervon allerdings
seinen langjährigen Verbündeten und jetzigen erbitterten Rivalen, den in den
USA lebenden Prediger Fethullah Gülen aus. Gegen
dessen Seilschaften im Polizei- und Justizapparat
waren in den letzten Wochen mehrere Verhaftungswellen unter dem Vorwurf der
Bildung eines »Parallelstaates« und der »Spionage« erfolgt. Die millionenstarke
Anhängerschaft des Imams in der Türkei rief Erdogan dazu auf, sich von »dieser
Bande von Verrätern« zu distanzieren.
Erdogans Hauptkonkurrent bei der
Präsidentschaftswahl, der Wissenschaftshistoriker und frühere Vorsitzende der
Organisation für islamische Zusammenarbeit, Ekmeleddin
Ihsanoglu, kam als gemeinsamer Kandidat der beiden
größten Oppositionsparteien auf 38,33 Prozent. Dies entspricht in etwa dem
gemeinsamen Stimmanteil der kemalistisch-sozialdemokratischen
Republikanischen Volkspartei (CHP) und der faschistischen Partei der
Nationalistischen Bewegung (MHP) bei der letzten Parlamentswahl 2011, liegt
allerdings rund fünf Prozent unter dem gemeinsamen Ergebnis dieser beiden
Parteien bei den Kommunalwahlen im März dieses Jahres. Obwohl noch eine Reihe
kleinerer rechter und sozialdemokratischer Parteien Ihsanoglus
Kandidatur mit unterstützten, ist es den Oppositionsparteien offensichtlich
nicht gelungen, ihre Anhänger für den ebenso wie Erdogan im
religiös-konservativen Milieu zu verortenden Kandidaten zu begeistern.
Insbesondere viele Aleviten, die traditionell die CHP
unterstützen, aber auch große Teile der sozialdemokratischen CHP-Wähler dürften
am Wahltag zu Hause beziehungsweise an ihren Urlaubsorten geblieben sein. Dafür
spricht auch die angesichts der Polarisierung des Landes durch die Erdogan-Kandidatur
unerwartet niedrige Wahlbeteiligung von 72,4 Prozent.
Einen Erfolg konnte der Kandidat der linken Demokratischen Partei der Völker
(HDP), Selahattin Demirtas, feiern. Während prokurdische Parteien auch im
Bündnis mit der radikalen türkischen Linken bei landesweiten Wahlen bislang
nicht über sieben Prozent kamen, konnte Demirtas als Präsidentschaftskandidat
9,71 Prozent erreichen und damit nahe an die Zehnprozenthürde für nationale
Wahlen herankommen. Zudem gelang es der HDP, zu deren Unterstützung die
illegale Arbeiterpartei Kurdistans PKK ebenso wie mehrere sozialistische
Parteien aufgerufen hatten, mit ihrem Kandidaten in den kurdischen Provinzen
des Landes zu triumphieren und dort in einigen Wahlkreisen auf Rekordergebnisse
von fast 95 Prozent zu kommen. Auch im Westen der Türkei konnte die HDP, die
sich nicht als kurdisch-nationale sondern als linke Alternative für alle
Unterdrückten versteht, ihren Stimmenanteil gegenüber den Kommunalwahlen
deutlich steigern. In der Mittelmeerstadt Mersin etwa gewann Demirtas 13
Prozent und in Istanbul stimmten mehr als eine halbe Million für ihn.
»Insbesondere mit dieser Wahl haben die Arbeiter und die Armen deutlich
gemacht, daß sie auf der Seite aller Unterdrückten in
diesem Land stehen«, erklärte Demirtas. Der 41jährige kurdische Rechtsanwalt
und Parlamentarier war mit dem Anspruch angetreten, alle benachteiligten
Bevölkerungsgruppen des Landes zu vertreten – von den Arbeitern über religiöse
Minderheiten bis zu Homosexuellen. »Obwohl er an letzter Stelle in diesem
Rennen lag, konnte der junge Politiker zeigen, daß
die kurdische politische Bewegung in der Lage ist, größere Teile der
Gesellschaft zu vereinigen«, kommentierte die Tageszeitung Hürriyet Daily News
das Ergebnis. »Demirtas ist möglicherweise der wahre Gewinner dieser Wahlen und
könnte zukünftig einer der wichtigsten Akteure in der politischen Arena der
Türkei werden.«
Wie ein osmanischer Herrscher
Erdogan will die Türkei umbauen – offiziell gelten die
USA als Vorbild
Von Nick
Brauns
Nach zwölf
Jahren im Amt des Ministerpräsidenten ist Recep Tayyip
Erdogan der nach Staatsgründer Mustafa Kemal langjährigste politische Führer
der Türkei. Kritiker werfen ihm aufgrund seines zunehmend selbstherrlichen und
autoritären Auftretens Sultansallüren vor. Daß Erdogan tatsächlich den osmanischen Herrschern
nacheifert, machte er am Wahlabend deutlich. Demonstrativ besuchte er nach
Bekanntgabe der Ergebnisse die Eyüp-Sultan-Moschee in Istanbul, dem
traditionellen Ort des ersten Gebetes der osmanischen Regenten nach ihrer
Thronbesteigung.
Zum Staatspräsidenten mußte sich Erdogan jetzt küren
lassen, da das Statut seiner Regierungspartei AKP keine vierte Amtszeit in
Folge zuläßt. Sein erklärtes Ziel ist der Umbau der
Türkei zu einem auf ihn zugeschnittenen Präsidialsystem. Als Vorbild hierfür
wurden von Erdogan zwar wiederholt die USA angeführt, doch im Unterschied zum
amerikanischen sieht sein anvisiertes Präsidialsystem in der zentralistischen
Türkei keinerlei Gegengewicht zum starken Staatschef vor. Erdogans
Versuch, bereits in der laufenden Legislaturperiode entsprechende
Verfassungsänderungen auf den Weg zu bringen, wurde durch AKP-interne
Auseinandersetzungen und fehlende parlamentarische Mehrheiten gestoppt. So ist
für Erdogan seine neue Position zumindest auf dem Papier mit einem Machtverlust
gegenüber seiner vorherigen verbunden. Laut Gesetz muß
er zudem als Staatspräsident den AKP-Vorsitz abgeben.
Zu den derzeitigen Befugnissen des Präsidenten zählt das Recht, leitende Beamte
zu ernennen. Der Staatschef sitzt dem aus den zivilen und militärischen Spitzen
gebildeten Nationalen Sicherheitsrat vor und kann den Ministerrat zu Sitzungen
unter seiner Leitung einberufen. Ein wichtiges Machtmittel liegt in seinem
Vetorecht gegen vom Parlament beschlossene Gesetze. Doch demgegenüber
unterstehen dem Ministerpräsidenten nicht nur das Kabinett, sondern auch der
durch ein kürzlich beschlossenes Gesetz zum »Staat im Staate« mit juristischer
Immunität ausgebaute Geheimdienst MIT, das Religionsamt Diyanet
mit seinen 100000 verbeamteten Imamen in 85000 Moscheen sowie die für die
Vergabe lukrativer Aufträge im boomenden Bausektor zuständige
Wohnungsbaubehörde TOKI.
Erdogan hat angekündigt, im Unterschied zu seinem Vorgänger Abdullah Gül nicht
nur oberster Repräsentant des Staates sein zu wollen. Er wird versuchen, den
Übergang zum Präsidialsystem faktisch schon vor einem neuen Anlauf zur
Verfassungsänderung nach den Parlamentswahlen im kommenden Jahr zu vollziehen.
Möglich wird ihm dies nur sein, wenn sein Nachfolger als Ministerpräsident
seinerseits nicht alle Befugnisse ausschöpft. So dürfte Erdogan in den ihm noch
verbleibenden drei Amtswochen bereits mit der Umgestaltung des Kabinetts durch
die Berufung enger Gefolgsleute und nicht in die AKP-internen Machtkämpfe
verbundener Technokraten beginnen.
Als aussichtsreichster Nachfolger als Ministerpräsident gilt laut
Medienberichten vom Wochenende der derzeitige Außenminister Ahmet Davutoglu. Dieser steht zwar in der Kritik aufgrund des
Scheiterns seiner stark auf die Muslimbruderschaft
orientierten Nahostpolitik. Für seine Loyalität spricht aus Erdogans
Sicht wohl aber das Fehlen einer eigenen Hausmacht innerhalb der AKP. Als möglicher
neuer Außenminister im Gespräch ist neben dem bisherigen Europaminister Mevlüt Cavusoglu auch Geheimdienstchef Hakan Fidan. Der
Erdogan-Vertraute gilt als Architekt des Friedensprozesses mit der
Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Er leitet zudem die logistische Unterstützung
der von türkischem Territorium gegen Syrien agierenden dschihadistischen
Banden. Innenminister könnte der Istanbuler Polizeichef Selami Altinok werden,
heißt es in der zum Gülen-Imperium gehörenden Tageszeitung Todays
Zaman. Altinok war nach Bekanntwerden eines durch Gülen-nahe Staatsanwälte angestoßenes Korruptionsermittlungsverfahrens gegen führende
AKP-Politiker im vergangenen Dezember an die Spitze der Polizeibehörde gerückt.
Dort hatte er entsprechende Ermittlungen auch gegen Erdogans
Sohn Bilal gestoppt. Er gilt als zentrale Figur bei der derzeitigen Säuberung
der Polizei von Gülen-Anhängern.