Erdogans symbolische Reförmchen

Nick Brauns über eine Frie­dens­lö­sung in Kur­dis­tan und die Rolle der Ar­bei­ter­par­tei Kurdistans PKK in dem Kon­flikt

Am ver­gan­ge­nen Wo­chen­en­de emp­fing der tür­ki­sche Mi­nis­ter­prä­si­dent Recep Tay­yip Er­do­gan den Prä­si­den­ten der kur­di­schen Au­to­no­mie­re­gie­rung in Nord­irak, Mas­soud Bar­za­ni, zum Staats­be­such in der PKK-​Hoch­burg Diy­arba­k­ir im kur­di­schen Süd­os­ten der Tür­kei. Der durch lu­kra­ti­ve Öl­ge­schäf­te zum engen Ver­bün­de­ten An­ka­ras avan­cier­te kur­di­sche Prä­si­dent soll Er­do­gan als Trumpf­kar­te in dem ins Sto­cken ge­ra­te­nen Frie­dens­pro­zess mit der Ar­bei­ter­par­tei Kur­dis­tans PKK die­nen. Schließ­lich gilt der kon­ser­va­ti­ve Clan­füh­rer Bar­za­ni als Ge­gen­pol zum PKK-​Vor­sit­zen­den Ab­dul­lah Öca­lan und des­sen so­zia­lis­ti­schen Vi­sio­nen in der Frage, wer die über vier Län­der Tür­kei, Irak, Sy­ri­en und Iran ver­teil­ten Kur­den re­prä­sen­tiert.

Vor einem Jahr hatte die is­la­misch-​kon­ser­va­ti­ve AKP-​Re­gie­rung Ge­sprä­che mit dem seit 15 Jah­ren auf der Ge­fäng­nis­in­sel Im­ra­li in­haf­tier­ten Öca­lan auf­ge­nom­men. Eine Gue­ril­laof­fen­si­ve und ein Hun­ger­streik tau­sen­der po­li­ti­scher Ge­fan­ge­ner hat­ten der AKP zuvor ver­deut­licht, dass sich der seit über 30 Jah­ren an­dau­ern­de kur­di­sche Auf­stand nicht mit mi­li­tä­ri­schen Mit­teln al­lei­ne be­frie­den lässt. Der Dia­log mit Öca­lan trug auch au­ßen­po­li­ti­schen Rea­li­tä­ten Rech­nung. So hatte sich im Schat­ten des sy­ri­schen Bür­ger­krie­ges im Nor­den des Nach­bar­lan­des eine kur­di­sche Selbst­ver­wal­tung eta­bliert. Füh­ren­de Kraft ist dort mit der Par­tei der De­mo­kra­ti­schen Union eine Schwes­ter­par­tei der PKK. Das Bild Öcal­ans hängt oft nur einen Stein­wurf von der tür­ki­schen Gren­ze ent­fernt in Re­gie­rungs­ge­bäu­den und Po­li­zei­wa­chen.

Die Frie­dens­ge­sprä­che mit Öca­lan führ­ten im März zu des­sen Auf­ruf an die Gue­ril­la, sich aus der Tür­kei zu­rück­zu­zie­hen. Die­ser Schritt würde die Tür zu einer neuen Phase des Kamp­fes um die De­mo­kra­ti­sie­rung der Tür­kei öff­nen, hoff­te Öca­lan. Denn wäh­rend tür­ki­sche Na­tio­na­lis­ten, aber auch deut­sche Pres­se­agen­tu­ren und Staats­an­walt­schaf­ten bis heute ge­bets­müh­len­ar­tig be­haup­ten, die PKK kämp­fe für einen ei­ge­nen Kur­den­staat, ist die Be­frei­ungs­be­we­gung von die­sem Ziel be­reits vor 20 Jah­ren ab­ge­rückt. Öca­lan kri­ti­siert Na­tio­nal­staa­ten heute als an­ti­quier­te Zwangs­ja­cken, die ein gleich­be­rech­tig­tes Zu­sam­men­le­ben der Völ­ker ver­hin­dern. Statt­des­sen tritt er für eine auf Kom­mu­nen und Ko­ope­ra­ti­ven ba­sie­ren­de Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on der Kur­den in­ner­halb der be­ste­hen­den Staats­gren­zen sowie die De­mo­kra­ti­sie­rung die­ser Staa­ten ein. Zen­tra­le For­de­run­gen an An­ka­ra be­tref­fen daher die Frei­las­sung der über 8000 po­li­ti­schen Ge­fan­ge­nen ein­schließ­lich Bür­ger­meis­ter, Par­la­ments­ab­ge­ord­ne­ter und Stadt­rä­te, eine Sen­kung der Zehn-​Pro­zent-​Hür­de bei Par­la­ments­wah­len, mut­ter­sprach­li­chen Schul­un­ter­richt sowie kom­mu­na­le Selbst­ver­wal­tung. Ga­ran­tiert wer­den sol­len diese Rech­te in einer neuen Ver­fas­sung, die nicht mehr ein­sei­tig das Tür­ken­tum be­tont, son­dern der mul­ti­eth­ni­schen und mul­ti­re­li­giö­sen Rea­li­tät der Tür­kei Rech­nung trägt.

Auf den Waf­fen­still­stand der PKK er­folg­ten bis­lang keine ent­spre­chen­den Schrit­te der Re­gie­rung. Zwar wur­den Mi­li­tärope­ra­tio­nen weit­ge­hend ein­ge­stellt. Doch gleich­zei­tig wird der Bau von über 150 Mi­li­tär­stütz­punk­ten zum Teil di­rekt auf den von der Gue­ril­la ge­räum­ten Po­si­tio­nen vor­an­ge­trie­ben. Zudem un­ter­stützt An­ka­ra lo­gis­tisch zu Al Qaida ge­hö­ren­de Got­tes­krie­ger bei ihren An­grif­fen auf die kur­di­schen Selbst­ver­wal­tungs­ge­bie­te in Sy­ri­en. Ein »De­mo­kra­tie­pa­ket« der AKP im Sep­tem­ber be­dach­te zwar die ei­ge­ne from­me An­hän­ger­schaft mit einer Auf­he­bung des Kopf­tuch­ver­bots im öf­fent­li­chen Dienst. Doch sub­stan­zi­el­le Zu­ge­ständ­nis­se an die Kur­den, die über eine Zu­las­sung der bis­lang ver­bo­te­nen Buch­sta­ben X, Q und W hin­aus­gin­gen, fehl­ten darin. Die PKK legte daher den Abzug ihrer Kämp­fer vor­erst auf Eis. Noch schwei­gen die Waf­fen und es ist nicht zu spät für eine po­li­ti­sche Lö­sung. Doch Er­do­gan soll­te nicht glau­ben, die nach Jahr­zehn­ten op­fer­rei­chen Wi­der­stan­des po­li­tisch er­wach­ten Kur­den durch sym­bo­li­sche Re­förm­chen oder eine auf­ge­setz­te Bar­za­ni-​Show ab­spei­sen zu kön­nen.

Hoff­nung auf Frie­den und Skep­sis über Er­do­gans Ab­sich­ten hal­ten sich unter den 800 000 in Deutsch­land le­ben­den Kur­den die Waage. Mehr als 15 000 de­mons­trier­ten am ver­gan­ge­nen Sonn­abend in Ber­lin gegen das vor 20 Jah­ren in enger Ab­stim­mung mit der Tür­kei ver­häng­te PKK-​Ver­bot. Eine Auf­he­bung die­ses Ver­bots wäre ein kla­res Si­gnal der Bun­des­re­gie­rung an An­ka­ra, den Frie­dens­pro­zess mit der PKK ernst­haft fort­zu­set­zen, an­statt die kur­di­sche Seite nur in einem wahl­tak­tisch mo­ti­vier­ten Spiel auf Zeit hin­zu­hal­ten.

Neues Deutsch­land 20.​11.​2013