Junge Welt 19.12.2012 / Ausland / Seite 7

Machtkämpfe und Kriegstreiberei

Jahresrückblick 2012. Heute: Türkei. Erdogan setzt Umbau des Staates fort. Polit-Prozesse und Militarisierung nach Innen und Außen

Von Nick Brauns

 

In ihrem zehnten Regierungsjahr konnte die islamisch-konservative »Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung« (AKP) in der Türkei ihre Machtposition gegenüber den laizistischen Kräften weiter ausbauen. Doch innerhalb des AKP-Systems tun sich Risse auf. Eine stetige innen- wie außenpolitische Herausforderung für die Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan bleibt zudem die ungelöste kurdische Frage.

Nach der Gleichschaltung der Justiz stand in diesem Jahr die Umformung des Bildungswesens nach religiösen und neoliberalen Vorgaben auf der Agenda der AKP. Massive Gewerkschaftsproteste begleiteten eine Bildungsreform, die islamische Imam-Hatip-Schulen den weltlichen Gymnasien gleichstellt und durch die Möglichkeit von Fernunterricht die Verheiratung minderjähriger Frauen begünstigt.

Als Farce entpuppte sich der im April begonnene und von den Medien als »historisch« bezeichnete Prozeß gegen die Anführer des Militärputsches vom 12. September 1980. Nur zwei greise Generäle, Juntachef Kenan Evren und der frühere Luftwaffenchef Tahsin Sahinkaya, wurden überhaupt angeklagt. Aufgrund ihres Alters mußten die Generäle nicht vor Gericht erscheinen, sondern wurden per Videoschaltung vernommen. Mit wesentlich größerem Eifer geht die Justiz gegen Offiziere vor, denen sie die Organisation eines Staatsstreichs gegen die AKP unterstellt. Anfang Oktober 2012 wurden sechs ehemalige und aktive Generäle aufgrund eines »Vorschlaghammer« genannten Putschplans zu Haftstrafen bis zu 20 Jahren verurteilt. Auch das Verfahren gegen die sogenannte Ergenekon-Verschwörung steht vor dem Abschluß.

Die laizistische Opposition wirft der AKP vor, diese auf Aussagen geheimer Zeugen und auf manipulierten Beweisen beruhenden Verfahren, in deren Rahmen Hunderte Militärs, Politiker, Akademiker und Journalisten verhaftet wurden, zur Ausschaltung politischer Gegner zu benutzen. Wieweit der Einfluß des sich als Hüter des Laizismus verstehenden Militärs mittlerweile zurückgedrängt wurde, zeigte sich in einem Tabubruch am Tag der Republik am 29. Oktober. Erstmals waren die Kopftuch tragenden Gattinnen der AKP-Politiker gemeinsam mit der Militärführung zum Empfang bei Staatspräsident Abdullah Gül eingeladen. Gleichzeitig lieferten sich in Ankara Zehntausende Kemalisten (Anhänger des Republikgründers Kemal Atatürk) nach dem Verbot ihres traditionellen Aufmarsches eine Straßenschlacht mit der Polizei.

Da bei der in diesem Jahr begonnenen Ausarbeitung einer neuen Verfassung eine Einigung mit der links-kurdischen und kemalistischen Opposition in Fragen wie Minderheiten- und Arbeiterrechten nicht absehbar ist, deutet sich hier ein Bündnis der Regierungspartei mit der Fraktion der faschistischen Grauen Wölfe an. Erdogans Ziel ist ein Präsidialsystem, dessen erster Präsident er werden will. Doch innerhalb des religiösen Lagers stößt die selbstherrliche Politik des AKP-Chefs, der sich zunehmend als neuer Sultan gebärdet, auf wachsenden Widerstand.

Staatspräsident Abdullah Gül ging mehrfach auf verbale Distanz zu Erdogan, etwa, wenn dieser den Entzug der Immunität von kurdischen Abgeordneten forderte. Nach der gemeinsam betriebenen Ausschaltung ihrer laizistischen Gegner im Staatsapparat kommt es nun zu Spannungen zwischen dem Premier und der millionenstarken Gemeinde des im US-Exil lebenden Imam Fethullah Gülen, die rund ein Drittel der AKP-Wähler stellt. So ließen Gülen-nahe Staatsanwälte im Februar Geheimdienstchef Hakan Fidan per Haftbefehl jagen, weil dieser in Erdogans Auftrag mit Kadern der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) verhandelt hatte. Der Ministerpräsident entzog einige Sonderstaatsanwaltschaften dem Machtbereich der Gülen-Juristen und drohte eine Schließung von Bildungseinrichtungen der Imambewegung an.

Gegenüber den kurdischen Freiheitsbestrebungen setzt die AKP weiter auf ein repressives Vorgehen. Während die Luftwaffe Angriffe auf PKK-Stellungen, aber auch auf Dörfer im Nord­irak flog, wurde innerhalb der Türkei nahezu jede prokurdische Demonstration von der Polizei attackiert. Ein Verbot der Newroz-Feste am 21. März war allerdings nicht durchzusetzen, da Hunderttausende in der Metropole Diyarbakir trotz massiver Polizeiübergriffe auf die Straße strömten. Die seit 2009 laufenden Massenverhaftungen kurdischer Politiker gingen 2012 unvermindert weiter, so daß heute mehr als 8000 Aktivisten und Mitglieder der »Partei für Frieden und Demokratie« (BDP) einschließlich Dutzender Bürgermeister und sechs Abgeordneter im Gefängnis sind. Im September begann schließlich ein Massenprozeß gegen 44 prokurdische und linke Journalisten, die aufgrund ihrer Berichterstattung der Terrorismusunterstützung bezichtigt werden.

Die Repression hat zu einem Rückgang der zivilen Proteste und einer Verlagerung des Widerstands zu den bewaffneten Kräften in den Bergen und den Gruppen in den Gefängnissen geführt. Bei den schwersten Gefechten seit den 90er Jahren wurden nach PKK-Angaben über 1000 Soldaten und Polizisten getötet. Im Sommer ging die Guerilla dazu über, neben Hit-and-Run-Attacken auf Sicherheitskräfte die längerfristige Gebietskontrolle über Hunderte Quadratkilometer große Regionen in den gebirgigen Grenzprovinzen Hakkari und Sirnak auszuüben. Der türkische Staat ist dort in die Defensive geraten, während die Guerilla Straßenkontrollen durchführt und Kollaborateure festnimmt.

Unter Druck geriet die AKP-Regierung auch durch einen Hungerstreik von PKK-Gefangenen ab dem 12. September, dem sich zuletzt einige tausend Häftlinge angeschlossen hatten. Sie forderten ein Ende der Isolationshaft des seit Juli letzten Jahres von seinen Rechtsanwälten abgeschnittenen PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan sowie die Zulassung der kurdischen Sprache in Schulen und vor Gericht. Als sich mehrere Gefangene bereits in einem lebensbedrohlichen Zustand befanden, wurde der Hungerstreik an seinem 67. Tag nach einem Aufruf Öcalans abgebrochen. Regierungsvertreter bestätigten anschließend, daß Geheimdienstvertreter wieder einen Dialog mit Öcalan aufgenommen haben, dessen Rolle als Repräsentant der kurdischen Seite durch die Beendigung des Hungerstreiks gestärkt wurde.

Außenpolitisch setzte die AKP weiter auf einen Sturz des Baath-Regimes in Syrien, um über die verbündeten Moslembrüder ihren Einfluß auszuweiten. Doch im Windschatten der Kämpfe zwischen den syrischen Streitkräften und der von Ankara unterstützten »Freien Syrischen Armee« übernahmen im Sommer kurdische Volksräte die Kontrolle über mehrere Städte entlang der Grenze. Um zu verhindern, daß die syrischen Kurden eine Autonomie erlangen, läßt die AKP salafistische Banden in die Region schleusen, die sich dort Gefechte mit kurdischen Milizen liefern.

Während die Mehrheit der Türken eine Einmischung in den syrischen Bürgerkrieg ablehnt, tritt Erdogan offen als Brandstifter auf. So wurde am 22. Juni ein in den syrischen Luftraum eingedrungener türkischer Kampfjet von der Luftabwehr des arabischen Nachbarlandes abgeschossen. Nach Granateinschlägen unbekannter Herkunft auf dem Territorium der Türkei reagierte deren Armee ihrerseits mit dem Beschuß von syrischen Zielen. Zivile Flugzeuge mit Ziel Syrien wurden von der türkischen Luftwaffe zur Landung gezwungen. Innerhalb der NATO setzte sich Erdogan im Dezember mit seiner Forderung nach der Stationierung von »Patriot«-Luftabwehrraketen und AWACS-Flugzeugen durch. Mit 400 in der Nähe der südostanatolischen Stadt Kahramanmaras stationierten Bundeswehrsoldaten ist Deutschland Teil eines bedrohlichen Kriegsszenarios geworden, das sich nicht nur gegen Syrien, sondern auch gegen Iran richtet. Die Maxime des türkischen Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk »Frieden im Land – Frieden in der Welt« wurde unter Erdogan in ihr Gegenteil verkehrt.