Junge Welt 14.04.2012 / Geschichte / Seite 15

Blutbad an der Lena

Ein Massaker an sibirischen Bergarbeitern wurde vor 100 Jahren zum Auslöser einer politischen Streikwelle

Von Nick Brauns

 

Die Goldgruben am Fluß Lena im Nordosten Sibiriens galten als das russische Eldorado. Uneingeschränkte Herrscherin über die Bergwerke war die Goldschürfgesellschaft Lenzoto, deren Direktor I. N. Belousov als »ungekrönter König der Taiga« galt. Während die Aktionäre – britische Unternehmer und russische Aristokraten – Gewinne von sieben Millionen Rubel im Jahr einstrichen, schufteten die nahezu rechtlosen Bergarbeiter unter härtesten Bedingungen. Obwohl die vertraglich festgelegte Arbeitszeit maximal elf Stunden betrug, verbrachten sie bis zu 16 Stunden täglich in den Minen. Auf 1000 Werktätige kamen 700 Arbeitsunfälle. Ihr Vertrag verbot den jederzeit kündbaren Arbeitern, ihre Beschäftigungsverhältnis vor Ende der Anstellungsfrist aufzulösen. Verlassen konnten sie die abseits größerer Städte und 1700 Kilometer von der nächsten Eisenbahnstrecke entfernte Region nur, wenn die Lena schiffbar war. Die Bergleute hausten in Erdhöhlen und unter Planen. Teile des Hungerlohns wurden regelmäßig als Strafe für angeblich schlechte Arbeit einbehalten, ein anderer Teil wurde in Gutscheinen für überteuerte und minderwertige Lebensmittel aus den firmeneigenen Läden ausgezahlt.

Spontaner Streik


Die Unzufriedenheit unter den Bergarbeitern war entsprechend groß. Immer wieder kam es zu Unruhen und Protesten gegen die Unternehmer- und Polizeiwillkür. Als vergammeltes Pferdefleisch als Ration ausgegeben wurde, riß den Arbeitern auf dem ­Andreyevsky-Goldfeld in der Nähe des Ortes Bodaibo der Geduldsfaden. Sie traten am 13. März 1912 in einen spontanen Streik, dem sich die Nachbargruben anschlossen, so daß sich schließlich 6000 Bergarbeiter im Ausstand befanden.

Ein Streikkomitee unterbreitete der Minengesellschaft die Forderungen der Arbeiter nach Einführung des Achtstundentages, einer 30prozentigen Lohnerhöhung, der Abschaffung der Strafen und einer Verbesserung der Lebensmittelversorgung. Die Firmenleitung wies diese Ansprüche zurück. Statt dessen entsandte die Regierung auf Bitten des Direktors Belousov 340 Soldaten nach Bodaibo, die in der Nacht auf den 17. April die Mitglieder des Streikkomitees wegen »Aufwiegelung« gefangennahmen. Am folgenden Tag unterschrieben 3000 Arbeiter eine Erklärung, wonach sie aus freien Stücken ohne jede »Aufwiegelung« gestreikt hätten. Anschließend zogen sie in einem mehrere Kilometer langen Zug zu einer nahegelegenen Goldgrube, um beim Staatsanwalt die Freilassung ihrer Deputierten zu verlangen. Im Schnee, eingezwängt zwischen dem steilen Abhang zum Fluß Bodaibo auf der einen Seite und dem Wald auf der anderen, trafen die Bergleute auf die Soldaten in voller Kampfmontur, die den engen Weg versperrten. Als ein Ingenieur die Arbeiter zum Umkehren zu bewegen versuchte, drängten die hinteren Reihen weiter. Nun eröffneten die Soldaten auf Befehl ihres Hauptmanns Teshchenkov das Feuer. 250 Arbeiter wurden nach Angaben der bolschewistischen Zeitung Swesda (Der Stern) getötet und 270 verwundet. Ein offizieller Bergwerksbericht nannte später die Zahl von 150 Toten und hundert Verletzten.

Die Nachricht von dem Massaker verbreitete sich schnell über das ganze Land. Erfolglos versuchten antisemitische Kreise die Empörung vom Zarismus als wahrem Schuldigen abzulenken. »Die jüdischen Hauptmacher der Lena-Gesellschaft, gierig nach russischem Gold, schätzen russisches Blut nicht eben so hoch ein«, sah etwa die konservative Zeitung Novoe Vremia »dunkle Kräfte« am Werk, »die sich erlauben, mit menschlichem Blut zu spekulieren«. Zwar fanden sich im Lenzoto-Vorstand eine Reihe jüdisch klingende Namen wie der des Barons G. E. Gincburg, der ein großes Aktienpaket hielt. Doch die Gesellschaft verfügte zugleich über einen hohen britischen Kapitalanteil und engste Kontakte zur zaristischen Regierung sowie einen fast unbegrenzten Kreditrahmen bei der Staatsbank. Deren Interessen vertrat Lenzoto-Direktor I. N. Belousov, der die Soldaten angefordert hatte.

Die Abgeordneten der Reichsduma, in der Vertreter der Gutsbesitzer und Bourgeoisie die Mehrheit stellten, waren angesichts der anstehenden Neuwahlen des Parlaments gezwungen, über die blutigen Ereignisse zu debattieren. »Wenn eine Menschenmenge, die unter dem Einfluß bösartiger Agitatoren den Verstand verloren hat, sich auf das Militär stürzt, dann bleibt den Soldaten nichts anderes übrig, als zu schießen. So war es, und so wird es künftig sein«, rechtfertigte Innenminister N. E. Makarov das Vorgehen der Truppe. Wie schon das Massaker sorgte auch diese Rede für massive Empörung der gesamten Öffentlichkeit mit Ausnahme der Konservativen. Eine parlamentarische Untersuchungskommission unter dem Vorsitz Alexander Kerenskis wurde eingesetzt, die zur Popularität des bislang weitgehend unbekannten Hinterbänklers der bäuerlichen Sozialrevolutionäre beitrug, der 1917 Ministerpräsident der Provisorischen Regierung werden sollte. Der Streik der Bergleute an der Lena wurde noch bis Ende August ohne Ergebnis fortgesetzt, dann hatten die letzten der insgesamt 9000 Minenarbeiter mit ihren Familien die Region verlassen.

Landesweiter Protest


Das Lena-Massaker entfachte eine landesweite Protestwelle. Allein im April kam es zu rund 700 politischen Streiks mit insgesamt 300000 Teilnehmern. Auf Demonstrationen wurde von Anfang an die Forderung nach einer »demokratischen Republik« erhoben. Damit knüpften die Arbeiter dort an, wo sie auf dem Höhepunkt der Revolution von 1905 geendet hatten. Das Blutbad hatte ihnen die Augen dafür geöffnet, daß der Zarismus nicht durch einzelne Reformforderungen wie der nach dem Koalitionsrecht oder Petitionskampagnen verbessert werden konnte, wie es die gemäßigt sozialdemokratischen Menschewiki vorschlugen. Vielmehr konnten selbst grundlegende Rechte nur durch den Sturz des Systems errungen werden. »Gerade diese allgemeine Rechtlosigkeit im russischen Leben, gerade die Hoffnungslosigkeit und Unmöglichkeit des Kampfes für einzelne Rechte, gerade diese Unverbesserlichkeit der zaristischen Monarchie und ihres ganzen Regimes sind in den Ereignissen an der Lena so grell in Erscheinung getreten, daß sie in den Massen das revolutionäre Feuer entzündet haben«, schrieb Lenin. Am 1. Mai beteiligten sich 400000 Arbeiter an einem landesweiten Ausstand. Weitere politische Massenstreiks gegen Willkürakte des Staates, Verhaftungen und Hinrichtungen revolutionärer Proletarier und Matrosen folgten im Laufe des Jahres 1912. Zum ersten Jahrestag des Massakers legten 85000 Werktätige die Arbeit nieder. Neben der Losung der »demokratischen Republik« standen die von den Bolschewiki ausgegebenen Forderungen nach einem Achtstundentag und der Enteignung der Gutsbesitzer im Mittelpunkt der Kämpfe. »Wir haben es mit revolutionären Massenstreiks, mit dem Beginn des revolutionären Aufschwungs zu tun«, erkannte Lenin im Januar 1913. Rückblickend lassen sich die durch das Blutbad an der Lena entflammten Proteste als Auftakt einer neuen Offensive der Arbeiterbewegung deuten, die sich bis zum Ausbruch des Weltkrieges fortsetzte und schließlich 1917 in den revolutionären Sturz des Zarismus mündete.

 

Quelle: Willkürregiment der Zarenbande

Aus einem Flugblatt des Zentralkomitees der Bolschewiki zum ersten Jahrestag des Lena-Gemetzels


Am 4. April 1912 wurde an der fernen Lena der Glaube an die jetzige ›erneuerte‹ nachrevolutionäre Selbstherrschaft erschossen. Jeder, der geglaubt hat, daß bei uns jetzt eine konstitutionelle Ordnung existiert, jeder, der geglaubt hat, daß die alten Greueltaten nicht mehr möglich sind, hat sich davon überzeugt, daß dem nicht so ist, daß die Zarenbande nach wie vor ihr Willkürregiment über das große russische Volk führt, daß die Monarchie Nikolaus Romanows nach wie vor Hunderte und Tausende von Leichen russischer Arbeiter und Bauern für ihren Altar heischt, daß nach wie vor in ganz Rußland die Peitschen knallen und die Kugeln der zaristischen Söldlinge, der Treschtschenkos, pfeifen, denen die wehrlosen russischen Bürger als Zielschreibe dienen. Das Blutbad an der Lena hat eine neue Seite in unserer Geschichte eröffnet. Das Maß der Geduld ist erschöpft. Die angestaute Volksempörung hat den Damm durchbrochen. Der Strom des Volkszorns ist in Gang gekommen

Aus: J.W. Stalin, Werke Bd. 2, Berlin 1950, S.339