Junge Welt 22.01.2011
/ Geschichte / Seite 15
Aus eigener Kraft
Vor 65 Jahren wurde die kurdische Republik von Mahabad ausgerufen
Von Nick
Brauns
Am 22. Januar 1946 wurde in der
Stadt Mahabad im Iran die »Republik Kurdistan«
ausgerufen. Obwohl sehr kurzlebig, gilt sie bis heute als Symbol kurdischer
Selbstverwaltung. Ihr Scheitern zeigt zugleich das Dilemma des kurdischen
Nationalismus.
Mehrfach schien der kurdische Traum eines eigenen Staates greifbar nahe zu
sein. Doch immer wieder mußten die Kurden die
Erfahrung machen, daß sie nur Spielfiguren auf dem
Schachbrett der Groß- und Kolonialmächte sind. Die Briten hatte schon vor dem
Ersten Weltkrieg versucht, die Kurden aufzuwiegeln, um so die ölreiche osmanische Provinz Mosul kontrollieren zu können.
Der den Osmanen von den Alliierten diktierte Friedensvertrag von Sèvres 1920 sah aus diesem Grund einen eigenen kurdischen
Staat vor. Doch nach dem türkischen Befreiungskrieg unter Mustafa Kemals
Führung, an dem sich auch kurdische Stämme beteiligt hatten, fanden die Kurden
auf der Friedenskonferenz von Lausanne 1923 keine Vertretung. Ihre Siedlungsgebiete
wurden auf die Staaten Türkei, Irak, Iran und Syrien aufgeteilt. Während Ankara
– wohl zu Unrecht – die Briten hinter kurdischen Aufständen in der Türkei
vermutete, setzten diese als Mandatsmacht im Nordirak Mitte der 1920er Jahre
selber Giftgas gegen aufständische kurdische Stammeskrieger ein.
Während des Zweiten Weltkrieges rückten die verbündeten britischen und sowjetische Truppen in den Süden und Norden des Iran ein.
Das kurdische Gebiet um Mahabad lag dabei in einem
nicht besetzten Machtvakuum. Um den Einfluß der USA
und Großbritanniens zurückzudrängen, nahmen sowjetische Agenten Kontakte zu
kurdischen Intellektuellen und Stammesführern auf. Auf sowjetischen Druck
wählte das 1943 in Mahabad gegründete Komitee für die
Auferstehung Kurdistans (Komala) den Richter und
religiösen Führer von Mahabad, Ghazi Mohammed, zum
Vorsitzenden und benannte sich 1945 in »Demokratische Partei Kurdistans – Iran«
(DPKI) um.
Nachdem in Tabriz eine Autonome Republik
Aserbaidschan unter kommunistischer Führung ausgerufen wurde, hißte Ghazi Mohammed am 15. Dezember 1945 in Anwesenheit
sowjetischer Offiziere in Mahabad die rot-weiß-grüne
kurdische Nationalfahne mit der gelben Sonne. Eine »kurdische Volksregierung«
und ein 13köpfiges Parlament wurden gebildet. Als der zum Präsidenten ernannte
Ghazi Mohammed am 22. Januar auf dem Vier-Lampen-Platz offiziell die Republik
ausrief, trug er als Symbol des widersprüchlichen Bündnisses zwischen der
Sowjetunion und kurdischen Stämmen zu einer Generalsuniform der Roten Armee den
weißen Turban seines religiösen Amtes.
Die Republik Kurdistan umfaßte ungefähr ein Drittel
des kurdischen Siedlungsgebietes im Iran nördlich von Saqqez
mit rund einer Million Einwohnern. Doch ihr reeller Einfluß
blieb auf städtische Zentren beschränkt, da viele strenggläubige Stammeskurden
gegenüber der unter dem Schutz der atheistischen Sowjetunion gebildeten
Republik Distanz wahrten.
»Die Dörfer wurden von ihren alten Großgrundbesitzern und von Stammesführern
mit Hilfe einer Polizei, die sich aus der einheimischen Bevölkerung rekrutierte
und die in kurdische Tracht gekleidet war, verwaltet. Die Polizei unterstand
jedoch dem Kommando von Offizieren in sowjetischer Uniform, die in Mahabad stationiert waren«, schilderte der stellvertretende
US-Militärattaché in Teheran, Archie Roosevelt Jr., einen Besuch in der
kurdischen Republik. »Mahabad selbst hatte sich von
einer typisch eintönigen persischen Provinzstadt zu einer malerischen und
farbenprächtigen Stadt gewandelt, in deren Straßen sich Kurden in ihrer
Nationaltracht drängten – für den Augenblick unbehelligt vom Haß der iranischen Soldaten und Polizisten.« Ihre größten Leistungen vollbrachte die Republik auf
kulturellem Gebiet. Kurdisch wurde zur Amts- und Unterrichtssprache. Auf einer
von der UdSSR zur Verfügung gestellten Druckpresse wurden Lehrbücher und
Zeitschriften – auch für Frauen und Kinder – publiziert.
Zwar verfaßten kurdische Dichter Lobeshymnen auf
Stalin als »Befreier der unterdrückten Völker«. Doch innerhalb der anfangs noch
sozialreformerisch orientierten DPKI verhinderten neu hinzu gestoßene feudale
Großgrundbesitzer eine Bodenreform. Gestärkt wurden diese konservativen Kräfte
durch den mit tausend Stammeskriegern und ihren Familien vor irakischen Truppen
in den Iran geflohenen Partisanenführer Mullah Mustafa Barzani.
Auf sowjetischen Befehl unterstellte Barzani seine
Männer der kurdischen Republik.
Die zugesagte sowjetische Militärhilfe blieb weitgehend aus, so daß Mahabad auf den Schutz der
UdSSR angewiesen war. Doch für die Sowjetdiplomatie dienten die Kurden vor
allem als Druckmittel, um Ölkonzessionen im Nordiran
zu erlangen. Als die Rote Armee vertragsgemäß im November 1946 aus dem Iran
abzog, bedeutete dies den Todesstoß für die aserbaidschanische und die
kurdische Republik. Wichtige Stammesführer hatten zu diesem Zeitpunkt längst
aufgrund von Partikularinteressen ihren Frieden mit Teheran gemacht. Am 16.
Dezember 1946 marschierte die iranische Armee kampflos in Mahabad
ein. Ghazi Mohammed wurde zusammen mit seinem Vetter Seif und seinem Bruder
Sadr im Morgengrauen des 31. März 1947 in Mahabad
hingerichtet. Barzani floh mit 500 seiner Krieger ins
sowjetische Exil.
Seit Anfang der 60er Jahre hatte sich der Schwerpunkt des kurdischen
Freiheitskampfes in den Irak verlagert. Schutzmacht der Kurden waren nun die
USA, die gemeinsam mit Israel über Iran Barzanis
Partisanen mit Waffen versorgten. Doch auf dem Höhepunkt des Aufstandes ließ
US-Außenminister Henry Kissinger seine Schützlinge fallen, nachdem Iran im
Abkommen von Algier Grenzstreitigkeiten mit Irak geregelt hatte. Der Schah
sperrte Waffennachschub und Rückzugsraum, so daß die
kurdische Nationalbewegung im März 1975 ihre schlimmste Niederlage seit der
Zerschlagung der Republik Mahabad erlitt. »Der größte
Fehler meines Lebens war es, den USA zu vertrauen«, erklärte Barzani auf seiner Flucht in die USA. Diesen Fehler scheint
sein 1946 in Mahabad geborener Sohn Massoud heute als
Präsident der kurdischen Autonomieregion im Nordirak zu wiederholen. Denn die
als Gegenleistung für die kurdische Unterstützung des Golfkrieges 2003 gewährte
»Region Kurdistan – Irak« ist vollständig abhängig vom Schutz und den Dollars
der USA.
Ein Befreiungskampf müsse sich allein auf die eigene Stärke verlassen, hatte
Abdullah Öcalan bereits bei der Gründung der Arbeiterpartei Kurdistans PKK in
den 70er Jahren die Lehren aus den vorangegangenen Aufständen gezogen. Im
Unterschied zum Barzani-Clan setzt die PKK in ihrem
über 30jährigen Volkswiderstand nicht auf feudale Würdenträger und
Stammesloyalitäten, sondern mobilisiert arme Bauern, die Bewohner der
städtischen Elendsviertel und insbesondere die Frauen gegen Kolonialismus und
die Unterdrückung durch kurdische Feudalherren gleichermaßen. Statt für einen
zwangsläufig von einer imperialistischen Schutzmacht abhängigen kurdischen
Nationalstaat tritt die PKK ebenso wie ihre Schwesterorganisationen in Irak,
Iran und Syrien heute für Autonomie und rätedemokratische Selbstorganisation in
allen Teilen Kurdistans ohne Veränderung der Staatsgrenzen ein. So könnte den
Großmächten die kurdische Karte aus der Hand genommen werden, benennt Öcalan
eine solche Lösung der kurdischen Frage zugleich als Voraussetzung für eine
eigenständige demokratische Entwicklung des Mittleren Ostens.
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Abdullah Öcalan über zwei Wege der kurdischen Nationsbildung
Im Moment
versuchen die Kurden gerade mit zwei ineinander verschränkten Methoden
gleichzeitig, zu einer Nation zu werden. Die erste Methode ist die der
primitiv-nationalistischen, feudal-bourgeoisen kurdischen Oberschicht, welche
vom westlich-kapitalistischen System unterstützt wird und ihr Programm
vorläufig im föderalen kurdischen Staat im Irak konkretisiert. Die zweite ist
die Methode des werktätigen kurdischen Volkes, die auf der eigenen Kraft beruht
und bezweckt, zu einer demokratischen und freiheitlichen Nation zu werden.
Während die erste von reaktionären Interessen geleitet wird und feudale,
religiöse und Stammesbindungen benutzt, beruht die zweite auf demokratischen
und freiheitlichen Beziehungen, für die enge Stammesgrenzen und feudale und
religiöse Tendenzen keine Rolle spielen. Während die Vertreter der ersten
Methode hauptsächlich unter den Bedingungen der US-Besatzung in
Irakisch-Kurdistan die Führung zu übernehmen versuchen, versucht die zweite,
gestützt auf die eigene Kraft, einer anderen Interpretation von Kurdistan zum
Durchbruch zu verhelfen –nicht als Hemmschuh für die Demokratisierung der
Türkei zu wirken, sondern als ihr Antrieb.
Abdullah Öcalan: Jenseits von Staat, Macht und Gewalt, Köln 2010, S.350