Aus: junge Welt Ausgabe
vom 28.09.2017, Seite 6 / Ausland
Mesopotamisches
Jerusalem
Durch Referendum im Nordirak wachsen die Spannungen um
Kirkuk
Von Nick Brauns
Der kurdische Präsident Masud Barsani hat am Dienstag abend in einer
Fernsehansprache noch vor Auszählung aller Stimmen den Sieg im
Unabhängigkeitsreferendum verkündet. Demnach stimmten 92 Prozent für die
Eigenstaatlichkeit der kurdischen Gebiete des Irak. Auf Barsanis
Ankündigung, nun in Verhandlungen mit Bagdad treten zu wollen, antwortete der
irakische Ministerpräsident Haider Al-Abadi mit einem Ultimatum. Sollte die
kurdische Regierung nicht bis Freitag die Kontrolle der Flughäfen im Norden des
Landes an die Zentralregierung übergeben, werde der Luftraum über Kurdistan
gesperrt. Dass die irakischen Kurden für Eigenstaatlichkeit votiert haben, kam
nicht überraschend. Da es Barsani mit dem Referendum wesentlich um die
Absicherung seiner eigenen Position im innerkurdischen Machtkampf ging, könnte
Bagdad nach dieser völkerrechtlich nicht bindenden Meinungsbekundung wieder zur
Tagesordnung übergehen. Doch die durch das Referendum in den Fokus gerückte
Kirkuk-Frage lässt eine Beruhigung der Lage vorerst nicht erwarten.
Die 250 Kilometer nördlich von Bagdad gelegene
Millionenstadt Kirkuk gilt als das mesopotamische Jerusalem. Kurden, Araber und
Türken erheben gleichermaßen historische Ansprüche auf die über 3.000 Jahre
alte Stadt. Dabei geht es nicht nur um patriotische Gefühle. Denn Kirkuk ist
mit Reserven von bis zu zwölf Milliarden Barrel das Zentrum der irakischen
Erdölindustrie. Die Ressource wird aufgrund eines von Bagdad nicht anerkannten
Abkommens der Barsani-Regierung über eine Pipeline zum türkischen Mittelmeerhafen
Ceyhan transportiert.
Eine osmanische Enzyklopädie von 1896 beschrieb Kirkuk
noch als eine Stadt, deren Bevölkerung zu zwei Dritteln aus Kurden besteht.
Eine Volkszählung von 1957 ergab nur noch 48,2 Prozent Kurden, während die
arabische Bevölkerung auf 28,2 Prozent und die Turkmenen auf 21,4 Prozent
angewachsen waren. Das arabisch-nationalistische Baath-Regime war darum bemüht,
nach 1977 die demographischen Verhältnisse durch Umsiedlungen und Vertreibungen
weiter zugunsten der Araber zu verändern, die 1997 bereits 72 Prozent der
Bevölkerung ausmachten. Doch nach dem Sturz von Saddam Hussein in Folge der
US-Invasion 2003 strömten viele Kurden nach Kirkuk zurück und vertrieben
ihrerseits Teile der dort in den vergangenen Jahrzehnten angesiedelten Araber.
Gemäß den Parlamentswahlen von 2014 machen Kurden inzwischen 53 Prozent der
Bevölkerung von Kirkuk aus.
Laut Artikel 140 der irakischen Verfassung von 2003
soll über einen möglichen Anschluss von Kirkuk und anderen »umstrittenen
Gebieten« an die kurdische Autonomieregion in einer Volksabstimmung entschieden
werden. Eine solche wurde bislang nicht nur von der Bagdader Zentralregierung
verhindert. Auch Barsani hatte sich nie ernsthaft für die Umsetzung von Artikel
140 stark gemacht. Denn in Kirkuk dominiert die Patriotische Union Kurdistans
(PUK), so dass Barsani fürchten musste, in einem vereinigten Südkurdistan mit
seiner bislang dominierenden Demokratischen Partei Kurdistans (KDP) ins
Hintertreffen zu geraten.
Als der »Islamische Staat« (IS) nach der Einnahme von Mossul im Juni 2014 auch Kirkuk angriff, zogen sich die
dort stationierten Einheiten der irakischen Armee zurück. Kurdische Peschmerga
nutzten die Gunst der Stunde und übernahmen die Kontrolle. Anteil
an der Verteidigung gegen den IS hatten auch bis heute in Kirkuk stationierte
Guerillakämpfer der Arbeiterpartei Kurdistans PKK.
Nachdem die kurdischen Parteien im Stadtrat von Kirkuk
die Teilnahme an dem Referendum beschlossen hatten, wurde der Gouverneur von
Kirkuk, Nadschmaddin Karim, Mitte September vom
Bagdader Parlament für abgesetzt erklärt. Die meisten Araber und Turkmenen in
Kirkuk boykottierten die Abstimmung. »Unser nächstes Ziel ist Kirkuk«, kündigte
zu Wochenbeginn Karim Nuri, ein Kommandant der von Bagdad zum Kampf gegen den
IS aufgestellten und vom Iran unterstützten schiitischen Miliz Haschd Al-Schaabi (Volksmobilisierung)
einen Angriff auf die Ölmetropole an.
Auch die Türkei erhebt Ansprüche auf die ehemalige
osmanische Provinz Vilayet Mossul.
Regierungsnahe Medien zeigten Karten, auf denen Kirkuk dem türkischen
Staatsgebiet zugeschlagen wird. Vorerst rechtfertigt Ankara diese
Gebietsansprüche mit der Sorge um die Turkmenen. Gleichzeitig häufen sich
Hinweise, wonach der türkische Geheimdienst mit Hilfe der Turkmenenfront
bewaffnete Zellen in Kirkuk bildet. Dort braut sich ein explosives Gemisch
zusammen, das nach einem absehbaren Sieg über den IS die Agenda im Irak
bestimmen könnte.