Ronahi – Zeitschrift des Verbandes der Studierenden aus Kurdistan YXK

April 2011

 

Interview mit Nick Brauns

Dr. Nikolaus Brauns, geb. 1971 in München, ist Historiker, Journalist und Autor. Er arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Berliner Bundestagsbüro der Abgeordneten Ulla Jelpke (DIE LINKE.), schreibt regelmäßig für die linke, antiimperialistische Tageszeitung junge Welt zu politischen Entwicklungen in der Türkei und Kurdistan. Er ist im Kurdistan-Solidaritätskomitee Berlin aktiv und hat im letzten Jahr gemeinsam mit Rechtsanwältin Brigitte Kiechle das Buch "PKK - Perspektiven des kurdischen Freiheitskampfes: Zwischen Selbstbestimmung, EU und Islam" veröffentlicht.

Die Fragen:
 
- Wie wurde das Buch, das du mit Brigitte geschrieben hast, aufgenommen? Wurdet ihr bisher oft zu Lesungen eingeladen, hat es sich gut verkauft, wie waren die Kritiken und Reaktionen?

Bevor das Buch auf dem Markt war, zeigte sich unser Verleger vom Schmetterling-Verlag in Stuttgart sehr skeptisch, ob jemand ein so dickes und deswegen leider auch teures Buch kauft. Einige Buchhändler hatten zudem Bestellungen des Buches mit dem Argument abgelehnt, die PKK sei doch verboten. Doch schon kurz nach Erscheinen des Buches im Mai letzten Jahres hatten sich bereits mehrere hundert Exemplare vor allem durch Mundpropaganda unter  der kurdischen Community und der Kurdistan-Solidarität verkauft, so dass nachgedruckt werden musste. Dazu kamen dann gute Besprechungen unter anderem in den Tageszeitungen jungen Welt, Neues Deutschland und Yeni Özgür Politika. Besonders gefreut hat mich, dass im Februar 2011 auch der Westdeutsche Rundfunk in seiner Fernsehsendung Planet Wissen unser Buch ausdrücklich empfohlen hat – neben Karl Mays Roman „Durchs wilde Kurdistan“! Von fast allen Rezensenten wurde unsere kritisch-solidarische Herangehensweise gelobt, mit der wir auch kritische und für viele deutsche Leser schwer nachvollziehbare Themenkomplexe wie den ausgeprägten Personenkult um Abdullah Öcalan sachlich dargestellt und hinterfragt haben. Wir hatten schon eine Reihe gut besuchten Lesungen bei sozialistischen Organisationen, in kurdischen Vereinen, bei YXK-Gruppen und einmal sogar mit einem Döner-Imbiss als Veranstalter. Doch wir sehen unser Buch auch als einen Diskussionsbeitrag zur Lösung der kurdischen Frage. Unserer Meinung nach müsste eine Lösungsstrategie über ein Bündnis der kurdischen Befreiungsbewegung mit der Arbeiterbewegung in der Westtürkei verlaufen und neben der demokratischen auch eine antikapitalistische Agenda enthalten. Wir hatten gehofft, hier eine Diskussion anzustoßen, doch das ist noch nicht ausreichend gelungen.


- Zum Buch: Ihr greift in ihm Abdullah Öcalans Staatskritik an, indem ihr dieser eine mangelnde Kenntnis der Marxistischen Theorie attestiert. Meinst du nicht, dass Öcalans anarchistische Kritik an Herrschaft, der Mentalität des Staates, und das von manchen "radikalen MarxistInnen-LeninistInnen" als Reformismus abgetane Konzept des Demokratischen Konföderalismus im gegenwärtigen Kontext der kurdischen Frage eine Notwendigkeit darstellt?

Ich würde nicht sagen, dass wir Apo angreifen. Es ist eher eine solidarische Kritik unter Genossen. Und es geht hier um Definitionsfragen. Aus marxistischer Sicht ist auch ein Rätesystem, wie es der Demokratische Konföderalismus vorsieht, eine Form des Staates. Auch die Sowjetunion war nach der Revolution erst einmal so ein Rätesystem. Sowjet heißt ja nichts anderes als Rat. Dass daraus dann ein absoluter Staat wurde, dessen Bürokratie schließlich die Errungenschaften der Revolution erdrückte, lag nicht an einer falschen Denkweise der russischen Revolutionäre oder an einem zu staatskonzentrierten Programm. Lenin und die Bolschewiki verstanden die Räterepublik schon als einen ersten Schritt zur Abschaffung des Staates überhaupt. Denn im marxistischen Verständnis hat sich der Staat in der Geschichte als Unterdrückungsinstrument der jeweils herrschenden Klasse über die Ausgebeuteten gebildet. Die Voraussetzung für ein Ende eines jeden Staates ist damit das Ende der Klassengesellschaft im Kommunismus. Doch solange es noch Klassen mit unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Interessen gibt, wird auch eine Räterepublik noch ein Staat in dem Sinne sein, dass sie Zwangsmaßnahmen gegen Menschen anwenden muss. Dies ist die „Diktatur des Proletariats“, die zwar eine weitestgehende Demokratie für die Mehrheit der Bevölkerung ist, aber gegenüber ihren Feinden sich auch autoritär zu wehren weiß. Die in den 1920er Jahren einsetzten Fehlentwicklungen in Russland hatte bestimmte materielle und historische Ursachen wie die Unterentwicklung Russlands, die Folgen von Krieg und Bürgerkrieg und eine zunehmende Passivität der durch die revolutionären Kämpfe erschöpften Bevölkerung. Diese Realitäten werden von anarchistischen Genossen leider häufig vernachlässigt, wenn sie den Marxismus kritisieren. 

Mit Apo sind wir uns völlig einig, wenn wir in der Pariser Kommune von 1871 das Paradigma für jede zukünftige freie Selbstorganisation des Volkes von der Basis bis in die Spitze sehen. Die Kommune war wie Karl Marx damals ausdrückte allerdings auch „die endlich entdeckte politische Form, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen konnte.“ Doch gerade dieser letzte Aspekt kommt bei Apo bislang zu kurz. Dass durch den demokratischen Konföderalismus eine Kulturrevolution in Kurdistan ausgelöst wurde, indem ein seit Jahrtausenden im passiven Verharren gegenüber einem allmächtigen Staat erzogenes Volk sich demokratisch selbst zu organisieren beginnt, kann gar nicht genug betont werden. Doch ob der demokratische Konföderalismus als reformistisch oder revolutionär zu beurteilen ist, kann nicht allein aus seiner Form abgeleitet werden sondern nur aus seinen Inhalten. Das Konzept des demokratischen Konföderalismus ist ja in einem ständigen Fluss des Erprobens und Diskutierens begriffen. Fest stehen lediglich die Kernelemente demokratischer Selbstorganisation in Räten und Geschlechtergerechtigkeit. Viele entscheidende Fragen sind dagegen noch offen. Zum Beispiel gibt es noch keine klaren Vorstellungen über eine zukünftige wirtschaftliche Entwicklung Kurdistans. Der BDP-Co-Vorsitzende Selahattin Demirtas hat vor einigen Monaten erklärt, dass ein kapitalistisches Entwicklungsmodel wie in Südkurdistan für Nordkurdistan ungeeignet sei und auch Apo hat wiederholt Alternativen zur kapitalistischen Moderne gefordert. Doch wie diese konkret ausschauen können, ob Genossenschaften aufgebaut werden sollen und inwieweit es demokratisch beschlossene landesweite Pläne für eine industrielle Entwicklung geben soll, bleibt bislang unklar. Wir halten zum Beispiel eine Bodenreform in Kurdistan für unverzichtbar. Das Agha-Land muss an die landlosen Bauern, an perspektivlos in den Elendsvierteln der Städte lebende Flüchtlinge und auch an ehemalige Dorfschützer verteilt werden, die ein neues Einkommen brauchen, wenn sie keine Staatsmilizen mehr sind. Doch freiwillig werden die Aghas ihr Land nicht hergeben – auch nicht, wenn dies in den konföderalen Räten so demokratisch beschlossen wird. Noch nirgendwo in der Geschichte hat eine herrschende Klasse freiwillig auf ihr Eigentum und ihre Privilegien verzichtet. Dazu wird Zwang nötig sein, der Zwang von demokratisch aufgestellten Selbstverteidigungskräften des demokratischen Konföderalismus. Dies wäre dann ein revolutionärer Akt.

- Ihr schreibt weiter, dass "die Diskussion um das Matriarchat stark biologisierend geführt" würde. An dieser Stelle des Buches haben wir uns in unseren Lesekreisen stark gestoßen. Habt ihr deiner Meinung nach bei dieser Aussage genau genug zwischen der Annahme der matrizentrischen natürlichen Gesellschaft und ihrem Göttinnenmythos auf der einen und der Vorstellung einer künftigen geschlechtergerechten Gesellschaft als Leitidee für die aktuelle Politik auf der anderen Seite differenziert?

Wir haben versucht, zwischen der unserer Meinung nach unwissenschaftlichen Herleitung der Frauenbefreiungsideologie innerhalb der kurdischen Bewegung einerseits und der beeindruckenden politischen Praxis andererseits zu unterscheiden. Die führende Rolle der Frauen in der kurdischen Revolution wird ja sowohl in Apos Büchern als auch in den Texten der Frauenbewegung häufig mit angeblich angeborenen weiblichen Eigenschaften wie Pazifismus im Unterschied zum kriegerischen Wesen des Mannes begründet oder gar aus einer angenommenen matrizentrischen Urgesellschaft der Meder abgeleitet. Es wird nicht oder zu wenig hinterfragt, aufgrund welcher gesellschaftlicher Realitäten es im Laufe der Geschichte zu solchen Charakterzuschreibungen kommen konnte. Brigitte und ich hatten diese Diskussionen übrigens auch nächtelang mit Guerillakämpferinnen in den Kandil-Bergen. Unabhängig von einer solchen Herleitung sehen wir in der massenhaften Beteiligung von Frauen nicht nur den dynamischsten Teil des kurdischen Befreiungskampfes sondern auch einen Garanten gegen mögliche neoliberale oder religiöse Anpassungstendenzen. Wir denken aber, dass Geschlechtergerechtigkeit nicht nur eine Frage der richtigen feministischen Denkweise, der Ausbildung und Selbstorganisation der Frauen und der Erziehung der Männer ist, sondern materielle Grundlagen braucht. So ist uns zum Beispiel aufgefallen, dass im Flüchtlingslager Maxmur zwar ein Frauenrat in allen wichtigen Fragen mitentscheiden kann, aber es keine gemeinsamen Volksküchen gab. So war die Masse der Frauen weiterhin gezwungen, einen Großteil des Tages mit der individuellen Nahrungszubereitung für ihre Familien zu verbringen. Die Existenz der Frauenguerilla hat für das Selbstbild und Selbstbewusstsein kurdischer Frauen unschätzbare Dienste geleistet. Doch „in die Berge gehen“ kann nicht der Weg der Befreiung für alle Kurdinnen sein. Notwendig ist die Schaffung von Frauenarbeitsplätzen, um Frauen eine von ihren Männern oder Familien unabhängige Erwerbsquelle als Voraussetzung ihrer Freiheit zu bieten. Ein Vorbild ist hier beispielsweise die Frauenbäckerei mit Kaffee in Dersim. Es reicht auch nicht, die Aghas und Kapitalisten davon zu überzeugen, dass sie keine vier Frauen haben dürfen. Es geht darum, ihnen auch die materielle Möglichkeit dazu zu nehmen, sich mehrere Frauen leisten zu können. Das erfordert allerdings Eingriffe in das Eigentum des Aghas oder Kapitalisten zugunsten der Allgemeinheit.
 
- Eine Frage, die dir sicherlich schon oft gestellt wurde: Wie bist du zu der kurdischen Frage gekommen und warum ist es für eine deutsche Linke wichtig sich mit ihr auseinanderzusetzen?

Meine ersten Kontakte zu Kurden bekam ich im Golfkrieg 1991. Auf einer Antikriegsdemonstration in München traf ich eine Gruppe von Demonstranten, die eine mir unbekannte Fahne trugen – die damals noch erlaubte ERNK-Fahne. Ich kannte diese Fahne nicht und habe lange vergeblich versucht, das Land zu erraten. Dann hat mir einer dieser Genossen erklärt, dass das die kurdische Fahne ist, aber es kein Land dazu gibt. Im November 1993 wurde die PKK vom Bundesinnenministerium verboten. Wir haben dies innerhalb der revolutionär-marxistischen Organisation, der ich damals angehörte, so eingeschätzt, dass sich dieses Verbot nicht nur gegen eine Partei, sondern gegen alle Kurden und in der Konsequenz gegen die Arbeiterbewegung und die demokratischen Rechte in Deutschland richtet. Als 1994 im Namen des PKK-Verbots nicht mehr nur kurdische Newroz-Feste verboten wurden, sondern auch eine 1.Mai-Demonstration des DGB, sollte das unsere Einschätzung völlig bestätigten. Unsere Gruppe beteiligte sich damals gemeinsam mit anderen kommunistischen und kurdischen Organisationen am Aufbau eines Kurdistan-Solidaritätskomitees, das neben dem PKK-Verbot auch die deutschen Waffenlieferungen an die türkische Armee thematisierte und sich für ein Bleiberecht kurdischer Flüchtlinge einsetzte. Dass wir bald ebenso wie die kurdischen Genossen von der Polizei attackiert und unsere Wohnungen durchsucht wurden, zeigte uns, dass wir den deutschen Staat ganz offensichtlich an einem wunden Punkt getroffen hatten. Schon das PKK-Verbot wird ja mit außenpolitischen Interessen der Bundesrepublik begründet. Als Abnahmeland für deutsche Exportgüter und als Brücke zu den Märkten Asiens, als Energiedrehscheibe für bestehende und geplante Öl- und Gaspipelines aus dem Kaukasus und Mittleren Osten und als NATO-Partner hat die Türkei eine geopolitisch enorm wichtige Bedeutung für Deutschland. Den Profitinteressen der deutschen Wirtschaft werden dabei heute die Menschenrechte der Kurden geopfert, wie schon im ersten Weltkrieg das Schicksal der Armenier der deutsch-türkischen Waffenbrüderschaft geopfert wurde. Solange die deutsche Regierung und Wirtschaft Mittäter bei der Unterdrückung der Kurden in der Türkei sind, sollte die kurdische Frage auch für die linke Bewegung in Deutschland zentral sein – dazu kommt, dass in Deutschland mindestens 800.000 Kurdinnen und Kurden leben!
 
- Wie bewertest du die neu aufkommenden Solidaritätsarbeiten zu Kurdistan in der BRD (z.B. Kurdistan Solidaritätskomitees, Kampagne TATORT Kurdistan, Arbeiten zu dem Prozessen gegen kurdische Jugendliche in Stuttgart)? Ein einseitiger Tropfen auf den heißen Stein oder eine längst überfällige Wiederbelebung eines gemeinsamen Kampfes?

Es ist uns innerhalb der letzten Jahre langsam wieder gelungen, die kurdische Frage im Bewusstsein einer weiteren linken und demokratischen Öffentlichkeit zu verankern. Ich würde aber nicht von der „Wiederbelegung eines gemeinsamen Kampfes“ sprechen. Vielmehr ist es so, dass wir erstmals mit einem solchen gemeinsamen Kampf beginnen. In den 90er Jahren haben sich viele Kurdistan-Solidaritätsgruppen zu sehr als Anhängsel der kurdischen Befreiungsbewegung verhalten. Die Aktiven in diesen Gruppen haben sich zunehmend aus den damals schwachen deutschen linken Strukturen zurückgezogen und ihre Heimat in der starken kurdischen Bewegung gesucht. Als dann nach der Verschleppung von Apo der politische Kurs der Bewegung völlig geändert und statt eines sozialistischen Kurdistan eine demokratische Türkei gefordert wurde, waren viele Genossen frustriert und haben sich aus der Arbeit zurückgezogen. Die wenigen, die weiter arbeiteten, blieben ebenso wie die kurdische Bewegung selber isoliert. Zum Scheitern der Kurdistan-Solidarität der 90er Jahre hatte allerdings auch ein damals unter einigen kurdischen Genossen anzutreffendes rein instrumentelles Verhältnis zu anderen Linken geführt. Genossen fühlten sich verheizt oder als Stohleute missbraucht, wenn sie zwar Demos anmelden sollten oder in Vereinsvorstände als Alibideutsche gewählt wurden, aber es keinen Dialog auf gleicher Augenhöhe gab. Erst in den letzten vier, fünf Jahren hat eine neue Generation von Aktiven aus der Antifa und der Antiglobalisierungsbewegung die kurdische Frage wieder entdeckt – und einige derjenigen, die bereits in den 80er und 90er Jahren aktiv waren, sind wieder oder immer noch dabei. Für diese neue Kurdistan-Solidarität ist der politische Wandel der kurdischen Befreiungsbewegung ab 2004/5 ganz entscheidend. Mit den von Abdullah Öcalan zur Diskussion gestellten und von der Befreiungsbewegung zunehmend realisierten Projekten von Basisdemokratie und Frauenbefreiung können sich viele linke Aktive identifizieren, die gegenüber nationalen Befreiungsbewegungen sonst eher eine kritische Distanz hatten. Und auch auf kurdischer Seite setzt sich zunehmend die Erkenntnis durch, dass wir einen gemeinsamen, globalen Kampf  für Frieden, demokratische Selbstbestimmung, soziale Gerechtigkeit, Geschlechtergleichheit und Umweltschutz führen – in Kurdistan ebenso wie in Deutschland. Wir können in all diesen Kämpfen von einander lernen und uns gegenseitig unterstützen. Als Kurdistan-Solidaritätskomitee Berlin versuchen wir, die die kurdische Bewegung und die verschiedenen sozialen Kämpfe hier in Deutschland zusammenzubringen. Wir ermutigen die kurdischen Freunde, mit uns an Blockaden gegen Nazi-Aufmärsche teilzunehmen. Denn es gilt den Faschismus überall zu schlagen - in Diyarbakir ebenso wie in Dresden. Bei der jährlichen Gedenkdemonstration für die ermordeten Revolutionäre Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg in Berlin erinnern wir auch an die gefallenen kurdischen und türkischen Freiheitskämpfer. Und wir rufen dazu auf, am 1.Mai mit starken kurdischen Blocks an den Demonstrationen teilzunehmen. Umgekehrt werben wir dafür, dass sich mehr nichtkurdische Linke und Demokraten an den kurdischen Demonstrationen beteiligen oder als Menschenrechtsdelegationen nach Kurdistan fliegen um so den dortigen Freiheitskampf zu unterstützen. Wichtig bei der TATORT-Kurdistan-Kampagne ist gerade, dass sich Menschen beteiligen können, die noch Vorurteilte gegenüber der PKK haben oder Guerillakampf aus Überzeugung ablehnen, aber als Pazifisten oder Umweltschützer gegen Waffenlieferungen oder den Bau von Staudämmen sind. Und ich bin zuversichtlich, wer sich im Rahmen von TATORT Kurdistan intensiver mit Kurdistan beschäftigt, wird seine kritische Haltung zur PKK anhand eigener Erfahrungen überdenken.
 
- In einer Bemerkung des Bundesgerichtshofes zu einem Urteil aus dem Oktober 2010 heißt es: "Anhaltspunte dafür, dass bezüglich der Mitgliedschaft in der Vereinigung (der PKK) zwischen einem Kreis herausgehobener Funktionäre bzw. Kadern einerseits und den sonstigen Angehörigen zu differenzieren ist, sind den bisherigen Feststellungen in Ansehung der Struktur der PKK bzw. ihrer Nachfolgeorganisationen nicht zu entnehmen. ... Es ist jedoch kein ausreichender sachlicher Grund dafür erkennbar, denjenigen, der sich in Kenntnis von Zielen, Programmatik und Methoden der Organisation dieser anschließt und in ihr betätigt, allein deshalb nicht als Mitglied der Vereinigung einzustufen, weil er nicht dem Kreis der führenden Funktionäre angehört." Als Mitgliedschaft zählt nach diesem Urteil auch Tatigkeiten wie "die Entrichtung von Mitgliedsbeiträgen oder die Vornahme einfacher Hilfsdienste". Erwartet uns in den nächsten Jahren nun eine der größten Prozesswellen der Geschichte der BRD? Immerhin schätzt der Verfassungsschutzbericht die Anzahl der PKK-AnhängerInnen in Deutschland auf 11.500 Personen.

Es geht hier ja um ein Urteil, dass fordert, künftig die PKK als „terroristische Vereinigung im Ausland“ nach Paragraph 129b StGB zu verfolgen, wie es jetzt schon mit der türkischen linken DHKP-C und der tamilischen Befreiungsbewegung Tamil Tigers gemacht wird. Und während bislang nur mutmaßliche Führungskader als Terroristen bzw. ab Mitte der 1990er Jahre als Mitglieder einer „kriminellen Vereinigung“ nach Paragraph 129 StGB verfolgt wurden, soll diese Verfolgung nun auf alle Anhänger der PKK ausgeweitet werden. Für die Verfolgung nach Paragraph 129b StGB braucht es eine Genehmigung des Justizministeriums, die im Augenblick – Mitte März 2011 – noch nicht vorliegt. Sollte es eine solche Genehmigung geben, würde das auf jeden Fall eine noch größere Willkür bei der Verfolgung politisch aktiver Kurden bedeuten als bisher. Allerdings bezweifle ich, dass die deutsche Justiz das Personal und die Kraft hätte, hier gegen 11.500 Personen als „Terroristen“ zu ermitteln. So etwas würde zum Zusammenbruch des deutschen Justizsystems führen und kann kaum im Interesse der Herrschenden sein. Ich glaube daher nicht, dass es zu einer massiven Prozess- und Verurteilungswelle kommt. Vielmehr wird die Justiz gegen diejenigen, gegen die sie auch bislang ermittelt hat, nun den Gummiparagraphen 129b StGB einsetzten, der den Ermittlern viel mehr Möglichkeiten zur Überwachung und Verfolgung als das Vereinsgesetz (PKK-Verbot) oder der Paragraph 129 gibt. Untersuchungshaft ist da viel einfacher möglich und auch die Strafhöhe würde ansteigen. Denn nach der Logik des Paragraph 129b StGB könnte ein kurdischer Politiker in Deutschland auch für Guerillaaktionen in Kurdistan verantwortlich gemacht werden, an denen er überhaupt nicht teilgenommen hat. Dabei können deutsche Gerichte wie schon in den DHKP-C-Prozessen auf Informationen türkischer Justizbehörden zurückgreifen, obwohl jeder weiß, dass diese oft auf erfolterten Aussagen beruhen. Die sich hier insgesamt andeutende Verschärfung bei der Verfolgung der kurdischen Bewegung in Deutschland zeigt zugleich das Dilemma des sogenannten Anti-Terror-Kampfes. Offiziell wurde der Paragraph 129b StGB nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in den USA eingeführt, um gegen kleine Terrorzellen wie Al Qaida zu kämpfen. Doch bei der kurdischen Befreiungsbewegung handelt es sich eben nicht um kleine Zellen sondern um eine Volksbewegung. Wie die Bundesregierung kürzlich auf eine Anfrage der Linksfraktion erklärte, ist die PKK die dominante Kraft unter der kurdischen Migration in Deutschland. Und wir wissen, dass in der Türkei Millionen hinter Abdullah Öcalan und der PKK stehen. Ein solcher Befreiungskampf lässt sich nicht mit den Mitteln des politischen Strafrechts unterdrückten. Das merkt der türkische Staat und das wird auch der deutsche Staat merken. Eine Ausweitung der Verfolgung macht so nur die Notwendigkeit einer politischen Lösung deutlicher.


- Eine letzte Frage: Was war dein schlimmstes und was dein schönstes Erlebnis auf deinen Reisen nach Kurdistan?

Bei der Vielzahl von Erlebnissen, die ich in den letzten zehn Jahren in Kurdistan hatte, ist es schwer, einzelne herauszuheben. Es war auf jeden Fall ein erhebendes Erlebnis, 2007 die Guerilla in den Kandil-Bergen zu besuchen. Schockierend war es dagegen im vergangenen Oktober in Diyarbakir zu sehen, wie die Militärpolizei Bekannte und Freunde  im KCK-Prozess als „Terroristen“ auf die Anklagebank geführt hat. Doch an diesem Tag konnte ich vor dem Gericht eine Rede zu den versammelten Demonstranten halten und auf kurdisch rufen: Azadi ji bo Kurdistan! Die Moral der Menschen in Kurdistan, die trotz Jahrzehntelanger Unterdrückung, Haft und Folter den Widerstand und die Hoffnung nicht aufgeben, gibt auch mir immer wieder Kraft. Zu den schönsten Erlebnissen zählen natürlich auch die zahlreichen Naturreichtümer Kurdistans. So konnte ich vor zwei Jahren endlich den Berg Ararat sehen und im letzten Jahr war ich an den Quellen des Munzur. Das waren ganz besondere Momente.  Und natürlich genieße ich es, mit Freunden in Amed im Kaffee zu sitzen, Nargileh zu rauchen oder aramäischen Klosterwein zu trinken.


- Magst du uns noch etwas mit auf den Weg geben oder eine Anmerkung machen?

Ich freue mich, dass die YXK, die ich seit Mitte der 90er Jahre kenne, seit einiger Zeit wieder einen Aufschwung macht und neue Ortsgruppen entstehen. Ich wünsche mit, dass Ihr eurer doppelten Verantwortung als kurdischer Studierendenverband einerseits und sozialistischer Richtungsverband andererseits gerecht werdet. Der kurdischen Bewegung könnt Ihr insbesondere im Bereich der theoretischen Diskussionen und wissenschaftlichen Arbeiten dienen während Ihr gleichzeitig eine wichtige Rolle bei der Bündnispolitik mit anderen fortschrittlichen demokratischen und sozialistischen Kräften spielen könnt. Schließlich hoffe ich, dass aus der YXK auch neuer jugendlicher Schwung in die kurdischen Vereine und in Yek Kom getragen wird. Denn die kurdische Revolution ist auch eine Revolution der Jugend. Serkeftin!

 
 Vielen Dank für dieses Interview und deine wichtige Arbeit. Serkeftin.