Aus: junge Welt
Ausgabe vom 12.03.2015,
Seite 16 / Sport
Rote Kicker
Der Fußballhistoriker Christian Wolter hat die
Geschichte des Arbeiterfußballs in Berlin und Brandenburg untersucht
Von Nick
Brauns
Im
Kaiserreich galt Fußball noch als bürgerliches Vergnügen. Viele Arbeiter
lernten ihn erst als Soldaten in der Kaserne, wo er manchem Offizier als eine
Art kleines Manöver galt, kennen – und lieben. Durch den mit der
Novemberrevolution 1918 erkämpften Acht-Stunden-Arbeitstag hatten die Proleten
nach dem Krieg erstmals die nötige Freizeit, sich diesem materiell
erschwinglichen Sport aktiv oder passiv zu widmen. Der deutsche Fußball zählte
schon 1931 mehr als eine Million Mitglieder, davon war die Mehrzahl Arbeiter.
Für einen Teil von ihnen galt die Parole »Jeder Arbeitersportler ein Soldat der
Revolution«. Sie wollten sich körperlich für kommende politische Auseinandersetzungen
stählen. Schon im Kaiserreich hatten die Arbeiter-Turner-Vereine der
Sozialdemokratie als Frontorganisationen gedient. Der Arbeiter-Turn- und
Sportbund (ATSB), in dem 1,2 Millionen Sportler (1930) organisiert waren,
erklärte nach dem Ersten Weltkrieg die Entwicklung des Fußballs einschließlich
eigener Bundesmeisterschaften zu seinem Schwerpunkt.
Dem
»Arbeiterfußball in Berlin und Brandenburg 1910 – 1933« widmet sich der
Fußballhistoriker Christian Wolter mit seinem neuen Buch. Er ist gelernter Museologe mit Lok-Leipzig-Sympathien, Extorhüter
der Berliner Freizeitkicker vom Roten Stern Nordost sowie Verfasser des
Standardwerkes über die »Rasen der Leidenschaften«, das die Geschichte der
Berliner Fußballstadien untersucht.
Der reich
bebilderte Band über den Arbeiterfußball bietet eine chronologisch nach Jahren
gegliederte Mischung aus Sport und Politik, Anekdoten und Statistiken.
Zuschauerträchtige Höhepunkte im Arbeiterfußball waren Begegnungen deutscher
Kicker mit einer sowjetischen Auswahl. 1923 kam es zum ersten »Russenspiel« in
Berlin. Die im Jahr der Hyperinflation sichtlich ausgemergelten märkischen
Arbeitersportler hatten nicht den Hauch einer Chance gegen die wohlgenährten
und profimäßig trainierten russischen Genossen und verloren 0:6. Zum letzten
Länderspiel gegen eine russische Auswahl kam es 1927, anschließend bekannte
sich der ATSB offiziell zur Sozialistischen Internationale, und die Spaltung
der Arbeiterbewegung in Kommunisten und Sozialdemokraten griff auch auf den
Arbeiterfußball über. Berliner und Brandenburger Sportvereine, die von der
sozialdemokratischen ATSB-Leitung wegen kommunistischer Betätigung
ausgeschlossen worden waren – allen voran der traditionsreiche ASV Fichte
Berlin – sammelten sich in der Märkischen Spielvereinigung (MSV) und galten dem
sozialdemokratischen Berliner Polizeipräsidenten Zörgiebel
als staatsfeindliche Organisationen. Unter der faschistischen Diktatur dann
waren einige Arbeitersportler wie der 1944 hingerichtete Ringer Werner
Seelenbinder im Widerstand aktiv.
Wer bei der
Arbeit im Schacht oder Werkhalle zum jederzeit ersetzbaren Teil des
proletarischen Heeres wurde, sehnte sich nach individueller Entfaltung und
Ankerkennung, darauf weisen die Initiatoren der Fußballroute Berlin, Daniel
Küchenmeister und Thomas Schneider, im Vorwort des Buches hin. Wolter zeigt
auf, dass dieser Aufstieg des einzelnen – dem nicht selten der Übergang in
einen materiell besser ausgestatteten bürgerlichen Verein folgte – aus Sicht
der Arbeiterfußballfunktionäre gar nicht erwünscht war. So wurden lange in der
Arbeiterpresse selbst in Endspielberichten die Namen der Spieler verschwiegen,
um keinen Anlass für unproletarischen Personenkult zu
bieten. Zu Ende der Weimarer Republik ließ sich das nicht mehr
aufrechterhalten, es gab sogar Sammelbildchen der Erfolgsteams.
Mit den
heutigen Ultras teilte die Arbeiterfußballbewegung ihre Ablehnung einer
Kommerzialisierung des Sports. Doch vieles, was heute den Reiz des Fan-Daseins
ausmacht, war damals als »bourgeois« verpönt. So wurden die Zuschauer dazu
angehalten, nicht laut zu grölen und auch gute Schüsse des Gegners zu
beklatschen.
Christian
Wolter hat als Merchandising zu seinem Buch schöne weinrot-weiße
Arbeitersportschals mit dem Logo der KPD-nahen »Kampfgemeinschaft für rote
Sporteinheit« in limitierter Auflage herstellen lassen, die es auf den Lesungen
des Autors oder im Hoolywood-Laden in Ost-Berlin zu
kaufen gibt.
Christian Wolter: Arbeiterfußball in Berlin und
Brandenburg 1910-1933, Arete, Hildesheim 2015, 232 S., 19,95 Euro