Der preußische Offizier
Helmuth von Moltke wurde 1836 für drei Jahre als Instrukteur der osmanischen
Armee in die Türkei abkommandiert. Moltke nahm dabei auch an einem Feldzug
gegen aufständische Kurden teil, wie er in seinen »Briefen über Zustände und
Begebenheiten in der Türkei« beschrieb. »Es ist lange die Aufgabe der
abendländischen Heere gewesen, der osmanischen Macht Schranken zu setzen. Heute
scheint es die Sorge der europäischen Politik zu sein, ihr das Dasein zu
fristen«, formulierte Moltke prophetisch die zukünftige Rolle Deutschlands zur
Stabilisierung der türkischen Herrschaft. Die damals entstandene
„Moltke-Legende« erscheint somit als Vorspiel der bis zum heutigen Tag
andauernden strategischen Partnerschaft zwischen den herrschenden Klassen
Deutschlands und der Türkei. Die vielbeschworene deutsch-türkische
Waffenbrüderschaft ging dabei stets zu Lasten der Demokratie und Freiheit der
Völker der Türkei und des Friedens im Mittleren Osten.
Nach Gründung des einheitlichen
Nationalstaates 1871 stand zuerst einmal die Verteidigung des Status quo für
das Deutsche Reich im Gefüge der Großmächte im Vordergrund. So erklärte
Reichskanzler Otto von Bismarck, die orientalischen Zwiste seien nicht die
Knochen eines einzigen pommerschen Musketiers wert. Die sogenannte
Orientalische Frage war für den Reichskanzler ein Mittel, um die anderen Mächte
gegeneinander auszuspielen. Vorerst ohne eigene koloniale Ambitionen im
Mittleren Osten konnte Bismarck sich auf dem Berliner Kongress 1878 das Gewand
des »ehrlichen Maklers« überziehen und die völlige Aufteilung des Osmanischen
Reiches verhindern. Doch dann trat das Deutsche Reich in seine imperialistische
Phase ein und das Finanzkapital suchte neue Märkte, Anlagefelder und Rohstoffreservoirs
außerhalb Deutschlands. Damit rückte das territorial noch nicht unter den
anderen Großmächten aufgeteilte und auf dem Landweg erreichbare Vielvölkerreich
am Bosporus in den Fokus der Berliner Kolonialstrategen um einen »Platz an der
Sonne«. »Das wichtigste Operationsfeld des deutschen Imperialismus wurde die
Türkei, sein Schrittmacher hier die Deutsche Bank und ihre Riesengeschäfte in
Asien, die im Mittelpunkt der deutschen Orientpolitik stehen«, schrieb die
Sozialistin Rosa Luxemburg.
Sowohl das
aufstrebende Deutsche als auch das im Niedergang befindliche Osmanische Reich
waren auf der Suche nach Bündnispartnern gegen die traditionellen Großmächte
Frankreich und Großbritannien. Das deutsche Großkapital suchte neue
Absatzmärkte und Zugriff zu Rohstoffen, die Türkei wiederum versuchte sich vom
wirtschaftlichen und militärischen Druck Frankreichs und Englands freizumachen.
Da das Deutsche Reich als einzige Großmacht keine Gebietsansprüche auf
osmanisches Territorium stellte und andererseits der preußisch-deutsche
Militarismus im Krieg gegen Frankreich 1871 seine Schlagkraft bewiesen hatte,
beauftragte Sultan Abdul Hamid II. 1882 eine deutsche Militärmission mit der
Reorganisation der desolaten türkischen Armee. Unter dem Leiter der
Militärmission Colmar von der Goltz-Pascha erlangte
das Deutsche Reich zunehmend politischen Einfluss beim Sultan. Für die
deutschen Kanonenschmieden Krupp und Co. wiederum führte der Eintritt der
deutschen Offiziere in die osmanische Armee zu lukrativen Rüstungsgeschäften,
die deutsche Waffenindustrie erlangte bald ein Monopol beim Türkeigeschäft.
Neben der Rüstungsindustrie
wurde ab 1888 der Eisenbahnbau zum wichtigsten Instrument für das Eindringen
deutschen Kapitals in die Türkei, so dass Deutschland innerhalb weniger Jahre
zum zweitgrößten Kapitalanleger und Kreditgeber im Osmanischen Reich aufsteigen
konnte. Mit Kaiser Wilhelms II. auf seiner Orientreise 1898 in Damaskus
getätigtem Schwur, ein treuer Freund der muslimischen Welt zu sein, wurde der
planmäßige Vorstoß in den Mittleren Osten zur Chefsache. Zum konfliktträchtigen
Symbol deutscher Weltpolitik wurde ab 1902 der Bau der Bagdadbahn.
Die von der Deutschen Bank geführte Aktiengesellschaft erlangte zugleich
Schürfrechte im mesopotamischen Ölgebiet um Mossul und Basra. Der Bau einer Bahnstrecke von Berlin über
Konstantinopel bis zum Persischen Golf sollte einerseits den deutschen Einfluss
in der Türkei verstärken und die Ausbeutung des Landes auf dem Landweg von
Deutschland aus erschließen. Andererseits sollte die Bahn, über die sich
schnell Truppen transportieren ließen, dem weiteren Zerfall des »kranken Mannes
am Bosporus« entgegenwirken. »Einzig und allein eine politisch und militärisch
starke Türkei ermöglicht es uns, dafür zu sorgen, dass die großen Aussichten,
welche sich in den Ländern am Euphrat und Tigris für die Vergrößerung unseres Nationalvermögens
und die Verbesserung unserer wirtschaftlichen Bilanz bieten, auch wirklich mit
einiger Sicherheit in die Sphäre der realen Existenz übergehen können. Für eine
schwache Türkei keinen Pfennig, für eine starke, soviel nur irgend gewünscht wird«,
formulierte der deutsche Kolonialstratege Paul Rohrbach in seinem Buch »Die
Bagdad-Bahn – Vom deutschen Weg zur Weltgeltung« im Jahr 1902 den bis heute geltenden kategorischen Imperativ der
deutschen Türkeipolitik.
Als 1908 die
reformorientierten Jungtürken gegen die Alleinherrschaft des Sultans putschten,
musste die Reichsregierung nur kurz um ihren Einfluss an der Hohen Pforte
bangen. »Die Revolution wurde nicht von den Jungtürken in Paris und London
gemacht. Sie wurde nur von der Armee, und wenn man der Sache genau auf den
Grund gehen will, einzig und allein in Anatolien und von deutschtreuen
Offizieren durchgeführt«, frohlockte Kaiser Wilhelm II., als deutlich wurde,
welcher Flügel der jungtürkischen Geheimloge die Führung übernommen hatte.
»Diese Offiziere mit dem Schwert in der Hand denken wie richtige Deutsche.«
Hatten die Großmächte bisher
auf eine Politik der friedlichen Durchdringung gesetzt, um wirtschaftlichen,
militärischen und politischen Einfluss innerhalb der Türkei zu erlangen, so
eröffneten die Balkankriege 1912/13 das Rennen um die kriegerische Aufteilung
des osmanischen Erbes. Die von der deutschen Hochfinanz getragene Bagdadbahnstrategie, die den Großmachtinteressen der
Entente-Mächte im Mittleren Osten zuwiderlief, war dabei eine Ursache für den
Weltkrieg. Kriegszieldenkschriften des deutschen Monopolkapitals wiesen der
türkischen Armee die Aufgabe zu, für Deutschland die Ölquellen am Kaspischen
Meer zu erobern. Einen Tag nach der deutschen Kriegserklärung an Russland
unterzeichneten am 2. August 1914 die führenden Männer des jungtürkischen
Regimes, Enver und Talaat, einen geheimen
Bündnisvertrag, der die Türkei zum integralen Bestandteil des verhängnisvollen
deutsch-österreichischen Nibelungenbündnisses machte. Die Jungtürken beabsichtigten
den Krieg zur Ausrottung der christlichen Völker im Osmanischen Reich zu
nutzen, mit dem Ziel der Schaffung eines ethnisch reinen Nationalstaates. Zum
anderen hofften sie, im Bündnis mit dem deutschen Militarismus verlorene
Besitzungen des Osmanischen Reiches zurückerobern zu können.
Mit dem Beschuss russischer
Schwarzmeerhäfen durch die in türkischen Besitz übergegangenen deutschen
Kriegsschiffe Breslau und Goeben trat die Türkei am
28. Oktober in den Krieg ein. Unter deutschem Oberkommando kämpfte die
Osmanische Armee an der Seite des deutschen Reiches. Auf den Archäologen,
Diplomaten und Agenten Max von Oppenheim ging die Idee zurück, die Jungtürken
im November 1914 zur Ausrufung des Dschihad zu bewegen, um Frankreich und
Großbritannien durch Aufstände der Muslime in ihren Kolonialreichen zu
schwächen. Das Konzept ging nur begrenzt auf, da insbesondere die Araber mehr
den Versprechungen des britischen Agenten und Guerillaführers Thomas Edward
Lawrence auf nationale Unabhängigkeit glaubten, als dem Ruf zum heiligen Krieg
an der Seite ihrer türkischen Unterdrücker zu folgen.
Deutsche
Diplomaten wurden zu Mitwissern und einige deutsche Militärs zu Mittätern des
jungtürkischen Genozids an über einer Million Armeniern in den Kriegsjahren
1915–16. Mit den Worten, »unser einziges Ziel ist es, die Türkei bis zum Ende
des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig ob darüber Armenier
zugrunde gehen oder nicht«, wies Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg im
Dezember 1915 den Vorschlag des deutschen Botschafters in Konstantinopel
zurück, wenigstens in der deutschen Presse »den Unmut über die Armenierverfolgung zum Ausdruck kommen zu lassen und mit
Lobhudeleien der Türken aufzuhören«. Im Reichstag protestierte einzig der
Sozialist Karl Liebknecht dagegen, dass »im verbündeten türkischen Reiche die
armenische Bevölkerung zu Hunderttausenden aus ihren Wohnsitzen vertrieben und
niedergemacht worden ist«. Mit einem deutschen U-Boot wurden die
Hauptverantwortlichen für den Völkermord angesichts der Kriegsniederlage des
Osmanischen Reiches gerettet – auch, damit sie vor den alliierten Gerichten in
Konstantinopel nichts über die deutsche Beihilfe zu diesem Verbrechen aussagen
konnten. Der ehemalige osmanische Innenminister Talaat
fiel im Berliner Exil einem Attentat des armenischen Rachekommandos »Operation
Nemesis« zum Opfer, sein Attentäter Soghomon Tehlirian wurde freigesprochen.
Adolf Hitler nahm sich 20
Jahre später das Vorgehen der Jungtürken zum Vorbild. »Wer redet heute noch von
der Vernichtung der Armenier?«, fragte er am 22.
August 1939, als er vor hohen Militärs und Kommandeuren der SS erklärte, dass
der kommende Krieg gegen die Sowjetunion die gnadenlose Ausrottung des Gegners
– Mann, Weib und Kind – bedeute. Die Regierung in Ankara bot zwar von den Nazis
politisch oder rassisch verfolgten deutschen Wissenschaftlern Zuflucht, um
deren Fähigkeiten für den Aufbau des türkischen Staates zu nutzen. Doch
gleichzeitig zeigte die kemalistische Führung Sympathie mit der faschistischen Ideologie,
was die Nazis zur erneuten Verbesserung der wirtschaftlichen und politischen
Beziehungen nutzten. Der deutsche Botschafter in Ankara, Franz von Papen,
beeinflusste die Panturkistenbewegung um Alparslan Türkeş – den späteren Führer der Grauen Wölfe – im
Sinne der völkischen Weltanschauung der Nazis. Und deutsche Berater bauten den
Militärgeheimdienst der Türkei auf. Das Deutsche Reich wurde zwischen 1933 und
1938 zum größten Rohstoffimporteur und wichtigsten Partner beim Aufbau der
türkischen Industrie. Die Beziehungen beider Länder erreichten einen ähnlichen
Stand wie vor dem Ersten Weltkrieg. Die offiziell neutrale Türkei hielt unter
Atatürks Nachfolger Ismet Inönü dem Deutschen Reich mit Unterzeichnung eines
Nichtangriffspaktes vier Tage vor dem Überfall auf die Sowjetunion im Juni
1941 militärisch den Rücken frei. Dazu kamen umfangreiche Rohstofflieferungen
für die deutsche Rüstungsproduktion. »Seit die Donau ins Schwarze Meer fließt,
sind die Deutschen und die Türkei gezwungen, in einem sich ergänzenden
Wirtschaftsraum zu leben. Die Welt muss der Realität entsprechend gesehen
werden«, rechtfertigte Yunus Nadi, Chefredakteur der
kemalistische Zeitung Cumhuriyet, 1941 diese Politik.
Lediglich von symbolischer Bedeutung war die Kriegserklärung Ankaras an das
bereits besiegte Deutsche Reich am 23. Februar 1945.
Im Rahmen
der NATO, der die Türkei 1953 und die Bundesrepublik 1955 beigetreten waren,
lebte die deutsch-türkische Waffenbrüderschaft wieder auf. Türkische Offiziere
wurden an der Bundeswehrakademie in Hamburg und der Panzerschule in Munster
ausgebildet. Nach dem NATO-Beschluss von 1964, der Türkei unentgeltliche
Rüstungshilfe zu leisten, nahm die Bundesrepublik im gleichen Jahr die
Waffenlieferungen auf und wurde innerhalb der nächsten 30 Jahre zum
zweitgrößten Rüstungslieferanten des Landes nach den USA. Nach dem Zerfall der
Sowjetunion endete zwar die unentgeltliche Militärhilfe für die Türkei, doch
die Waffenlieferungen gingen als private Milliardengeschäfte der
Rüstungsindustrie abgesichert durch Exportrisikogarantien der Bundesregierung
weiter.
Der NATO-Beitritt beider
Länder hatte zur Wiederbelegung der wirtschaftlichen Beziehungen geführt. Die
Bundesrepublik stieg zur Haupthandelspartnerin der Türkei auf, deutsche Firmen
standen an vorderster Stelle der ausländischen Investoren. Mit dem
Anwerbeabkommen kamen ab 1961 innerhalb von 12 Jahren rund 900.000
türkeistämmige »Gastarbeiter« nach Deutschland, von denen viele sich
anschließend eine dauerhafte Existenz in ihrer neuen Heimat aufbauten.
Im April 1978 trafen sich der bayerische Ministerpräsident und CSU-Vorsitzende
Franz Josef Strauß und der Führer der faschistischen Partei der
Nationalistischen Bewegung (MHP). »Strauß sagte dem Vernehmen nach den
MHP-Politikern zu, dass in Zukunft für die MHP und die ›Grauen Wölfe‹ ein
günstiges psychologisches Klima in der Bundesrepublik geschaffen werden müsse,
damit die MHP hier in einem besseren Licht erscheine«, berichtete die
Gewerkschaftszeitung »metall« später. Mit
Unterstützung des Bundesnachrichtendienstes konnten sich die Grauen Wölfe nun
in Deutschland als Gegengewicht zu sozialistischen Strömungen unter der
Migration etablieren. Und während in der Türkei ein unerklärter Bürgerkrieg
gegen Linke, Gewerkschafter und Aleviten mit
Tausenden Toten tobte, schüchterten die Schläger der
Grauen Wölfe nun mit Billigung der deutschen Sicherheitsbehörden auch in
Deutschland türkeistämmige Oppositionelle ein. Bis heute genießt das immer
weiter ausgebaute Netzwerk aus tausenden türkischen Geheimagenten und Spitzeln,
Grauen Wölfen und den von Ankara entsandten Imamen in Deutschland weitgehende
Narrenfreiheit.
Einen Tag nach dem
NATO-Militärputsch vom 12. September 1980 erklärte Bundesfinanzminister
Matthöfer, der zuvor einen Milliardenkredit des IWF für die Türkei koordiniert
hatte, gegenüber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, »er hoffe auf einen
heilsamen Schock, aus dem ein Arrangement hervorgehe, an dem sowohl die
demokratischen Kräfte als auch die Armee beteiligt seien«. Das erste
internationale Abkommen, das die Putschjunta unterzeichnete, war ein Vertrag
mit der sozialliberalen Bundesregierung über Polizeihilfe. Während Zehntausende
Oppositionelle die Gefängnisse füllten und schwersten Folterungen ausgesetzt
waren, stellte eine Bundestagsdelegation nach einem Türkei-Besuch im März 1981
fest, dass die Türkei keineswegs diktatorisch regiert werde, die Junta sich auf
Zufriedenheit in der Bevölkerung stütze und es »keine systematische Folter
gäbe«.
In der
zweiten Hälfte der 1980er Jahre erlangte die kurdische Frage durch den Beginn
des bewaffneten Kampfes der Arbeiterpartei Kurdistans PKK zunehmend
internationale Aufmerksamkeit. Im Rahmen eines Aufstandsbekämpfungsprograms
der NATO kam der Bundesrepublik mit ihrer im Rahmen der Arbeitsmigration
angewachsenen kurdischen Diaspora einerseits und einem im europäischen
Vergleich strikten Staatsschutzrecht andererseits eine Schlüsselrolle zu.
Generalbundesanwalt Kurt Rebmann erklärte die PKK zum »Hauptfeind der inneren
Sicherheit«. 1989 wurden 20 kurdische Politiker wie wilde Tiere hinter
Panzerglasscheiben in einem unterirdischen Gerichtssaal in Düsseldorf
vorgeführt und angeklagt. Doch der Versuch der Bundesanwaltschaft, die gesamte
kurdische Befreiungsbewegung als terroristisch zu brandmarken, scheiterte
vorerst.
In einer verzweifelten
Reaktion auf die Bombardierung kurdischer Städte durch die türkische Armee
attackierten Kurden 1993 türkische Vertretungen, Cafés und Reisebüros in
Deutschland. Dies diente am 26. November 1993 als offizieller Anlass für ein in
Abstimmung mit der Türkei von langer Hand vorbereitetes Betätigungsverbot für
die PKK durch das Bundesinnenministerium. »Die politische Agitation der PKK und
ihr nahestehender Organisationen hat zwischenzeitlich ein außenpolitisch nicht
mehr vertretbares Ausmaß erreicht«, heißt es in der Verbotsverfügung, „eine
weitere Duldung der PKK-Aktivitäten in Deutschland würde diese deutsche
Außenpolitik unglaubwürdig machen und das Vertrauen eines wichtigen
Bündnispartners, auf das Wert gelegt wird, untergraben. Darüber hinaus werden
dadurch diejenigen Kräfte in der Türkei gestärkt, die die Bindungen an Europa
und an die westliche Welt lockern wollen«. In den letzten 25 Jahren wurden
aufgrund des PKK-Verbots Dutzende Vereine und Medien geschlossen, Hunderte
Demonstrationen verboten und Tausende Kurden zu Geld- oder Haftstrafen
verurteilt. Zwischen türkischen und deutschen Sicherheitsbehörden besteht eine
enge Zusammenarbeit zulasten der kurdischen Freiheitsbewegung und linker
Oppositioneller aus der Türkei.
Nach dem Ende des kalten
Krieges bekam die Türkei für die deutsche Außenpolitik wie schon zu Zeiten der Bagdadbahnpolitik die Funktion eines Tors zu den
Rohstoffquellen und Märkten des Mittleren Ostens. 6.000 deutsche Firmen lassen
heute in der Türkei produzieren. Für die Türkei ist Deutschland weiterhin der
wichtigste Abnehmer ihrer Exportprodukte, vor allem Textilien und
Nahrungsmittel. Umgekehrt steht die Türkei unter den deutschen Exportpartnern
nur auf dem 15. Platz.
Ihre geopolitisch bedeutsame
Rolle beweist die Türkei nicht nur durch die zumindest bis vergangenes Jahr
auch von der Bundeswehr genutzten Luftwaffenstützpunkte in Incirlik
und Konya, sondern auch in ihrer Rolle als Türsteher der EU zur Abwehr von
Flüchtlingen. Vom türkischen Präsidenten Recep Tayyip
Erdoğan aus innenpolitischen Erwägungen vor dem
Referendum über ein Präsidialregime im vergangenen Jahr losgetretene Spannungen
mit Deutschland, die in der Inhaftierung deutscher Journalisten und
Menschenrechtler gipfelten, waren angesichts der gegenseitigen wirtschaftlichen
und geopolitischen Interessen dann auch nur an der Oberfläche und nicht von
langer Dauer.
Denn nicht Demokratisierung
und Menschenrechte, sondern Stabilität und Kapital-Anlagesicherheit sind es,
was die Bundesregierung in der Türkei einfordert. Nicht Erdoğans
diktatorische Anwandlungen, sondern im Gegenteil die wachsende Unfähigkeit der
regierenden AKP, ihre Hegemonie auch auf die andere Hälfte der Bevölkerung
auszudehnen und ihre polarisierende Politik, die die Türkei an den Rand des
Bürgerkriegs treibt, erscheinen als Hindernis für die Interessen des deutschen
Kapitals in der Türkei. Und nicht der Krieg gegen das kurdische Volk, sondern
vielmehr das Unvermögen des AKP-Regimes, den längst über die türkischen
Landesgrenzen hinausgewachsenen kurdischen Aufstand einzudämmen, bereitet der
Bundesregierung Sorgen. Für Irritationen in Berlin sorgt schließlich die Hinwendung
des türkischen Präsidenten Erdoğan zu Russland,
wie Ex-Außenminister Sigmar Gabriel am 24. März 2018 im Tagesspiegel schrieb.
»Unser Interesse muss deshalb vor allem sein, die Türkei weiterhin geopolitisch
›einzubinden‹ – man kann auch sagen ›einzuhegen‹, um sie nicht dauerhaft in
eine Sonderrolle abdriften zu lassen, deren Folgen für uns unabsehbare Risiken
beinhalten.«
Für die herrschenden Klassen
der EU- und NATO-Staaten und insbesondere der Bundesrepublik steht die
Stabilität der Türkei als Markt, Investitions- und Produktionsstandort, als
Energietransferland und militärisches Sprungbrett in den Nahen Osten auf dem
Spiel. An der vor 100 Jahren formulierten strategischen Orientierung des
deutschen Imperialismus hat sich bis heute nichts geändert. Für eine starke
Türkei an der Seite Deutschlands ist die Bundesregierung bereit, jeden Preis zu
zahlen – auch wenn darüber damals die Armenier und heute die Kurden zu Grunde
gehen.
Aus: Kurdistan
Report Nr. 197 Mai/Juni 2018