Junge Welt 15.04.2010
/ Ausland / Seite 6
Am 1. Mai auf den Taksim
Erfolg der türkischen Gewerkschaftsbewegung nach 33
Jahren
Von Nick
Brauns
Das erste
Mal seit 33 Jahren dürfen die türkischen Gewerkschaften ihre Maifeier wieder
auf dem zentralen Taksim-Platz in Istanbul
veranstalten. Das erklärte der Gouverneur von Istanbul, Muammer Güler, nach
einem Gespräch mit den Verantwortlichen von sechs Gewerkschaftsdachverbänden am
Dienstag. Der Taksim-Platz sei laut
Versammlungsgesetz zwar kein Ort für Demonstrationen, doch für den 1. Mai werde
eine Ausnahme gemacht, so Güler. Möglich wurde dieser symbolische Erfolg, weil
diesmal alle sechs sonst weltanschaulich gespaltenen Gewerkschaftsdachverbände
– von der linken Angestelltengewerkschaft KESK bis zum staatsnahen und größten
Gewerkschaftsverband Türk-Is – gemeinsam den Platz für sich eingefordert
hatten.
Der Taksim-Platz hat für die Arbeiterbewegung der
Türkei eine besondere symbolische Bedeutung. Am 1. Mai 1977 eröffneten dort Gladio-Einheiten der NATO von einem Hotel aus das Feuer auf
Zehntausende Anhänger der Konföderation der revolutionären
Arbeitergewerkschaften DISK. 36 Menschen wurden damals getötet, während die
Täter straffrei entkamen. Seitdem blieb der Taksim
für die Gewerkschaften gesperrt.
2007 und 2008 war es zu schweren Auseinandersetzungen gekommen, als die Polizei
Tausende Gewerkschafter gewaltsam daran hinderte, auf den Taksim
zu gelangen. Hunderte Arbeiter wurden festgenommen und eine
Gewerkschaftszentrale mit Gasgranaten bombardiert. 2009 hatte der Gouverneur
zwar eine symbolische Delegation von einigen hundert Gewerkschaftern auf dem Taksim zugelassen, doch als dennoch Tausende dorthin
strömten, griff die Polizei erneut an.
»Nur unsere Arbeiter, Gewerkschaften und Gewerkschaftsdachverbände sollen zusammenkommen«,
erklärte Innenminister Besir Atalay von der islamisch-konservativen AK-Partei.
Die Gewerkschaften würden »der Regierung helfen und die illegalen Elemente
wegsäubern, die diesen Tag mißbrauchen könnten«,
zeigte sich der Minister zuversichtlich, daß
staatsnahe Gewerkschaftsbürokraten in diesem Jahr als Hilfssheriffs fungieren
würden. Mit den »illegalen Elementen« sind offenbar die Anhänger illegaler
sozialistischer Organisationen und der Arbeiterpartei Kurdistans PKK gemeint,
die ebenfalls zu den Maikundgebungen mobilisieren. Zusammenstöße mit der
Polizei sind so trotz der Öffnung des Taksim am 1.
Mai nicht ausgeschlossen. Bereits in den letzten zwei Wochen griff die Polizei
in Ankara und Istanbul Kundgebungen von Gewerkschaften, sozialistischen und
prokurdischen Parteien an.
2008 war der 1. Mai in der Türkei als »Tag der Arbeit und Solidarität« zum
gesetzlichen Feiertag erklärt worden. Schon dies war ein Erfolg einer
internationalen Kampagne von Gewerkschaften aus 28 Ländern gemeinsam mit den türkischen
Gewerkschaftsdachverbänden Türk-Is, DISK und dem KESK. Auch in diesem Jahr
wollen zahlreiche Gewerkschaftsdelegationen aus Europa an den Maifeiern in
Istanbul teilnehmen. So macht sich die Lebensmittelgewerkschaft NGG Dortmund in
einem auch von mehreren Bundestags- und Europaabgeordneten der Linkspartei
unterstützten Appell für ein »uneingeschränktes Demonstrationsrecht am 1. Mai
2010 in der europäischen Kulturhauptstadt Istanbul« stark.