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Derzeit wird die Türkei wieder einmal von einer staatlich organisierten
antikurdischen Propagandawelle überzogen. Auslöser war eine vor laufenden
Fernsehkameras in der Stadt Mersin während einer Newroz-Demonstration zu Boden
geworfe türkische Fahne. Als ein Mann den Gruß der faschistischen Grauen Wölfe
zeigte, kam es zum Gerangel, in dessen Verlauf seine türkische Fahne zu Boden
fiel. Ein Junge, dem die Fahne anschließend von einem Unbekannten in die Hand
gedrückt wurde, warf sie weg, als Polizisten eingriffen.
Die türkische Regierung, der Generalstab und die türkisch-nationalistische
Presse nutzen den Vorfall seitdem für eine nationalistische Kampagne gegen die
Kurden. »Die türkischen Streitkräfte sind wie ihre Vorfahren bereit, ihren
letzten Blutstropfen zu opfern, um das Vaterland und seine Fahne zu
verteidigen«, erklärte die Armeeführung. Fälschlicherweise wurde in der Presse
berichtet, die Fahne sei verbrannt worden. Aksam und andere Tageszeitungen wollen
hinter dem Vorfall sogar »ein Komplott ausländischer Mächte« gegen die Türkei
sehen.
Die Polizei verhaftete den 13jährigen Jungen, der die Fahne auf dem Boden
fallen ließ, auf einem Schulhof und brachte ihn zusammen mit einem 14jährigen
zum Verhör in die Antiterrorabteilung der Polizei von Mersin. Vier weitere
Minderjährige wurden ebenfalls im Zusammenhang mit dem Fahnenvorfall
festgenommen. Die Anschuldigung lautet auf »Rufen von Parolen im Namen einer
separatistischen Organisation, Steine werfen auf Sicherheitskräfte, Angriff auf
die türkische Fahne sowie Durchführung illegaler Straßendemonstrationen mit
terroristischen Zielen«.
Die kurdische Demokratiepartei des Volkes (DEHAP) und andere
zivilgesellschaftliche Organisationen werten den Fahnenvorfall als bewußt
angelegte Provokation des Staates. Alladdin Dincer, der Vorsitzende der
türkischen Lehrergewerkschaft Egitim-Sen, warnte vor der Entfachung eines
Bürgerkrieges zwischen Kurden und Türken.
Auch Murat Karayilan von der Führung des Kongra-Gel rief angesichts des vom
Generalstab ausgelösten »Sturms im Wasserglas« zur Besonnenheit auf. Der
Vorfall von Mersin sei als Reaktion des Staates auf die millionenfache
Beteiligung an Newroz zu betrachten. Laut einer polizeilichen Stellungnahme
wurden während der Newroz-Feierlichkeiten landesweit 23 Personen festgenommen,
weil sie sich an illegalen Demonstrationen beteiligt und dabei öffentliche
Gebäude angegriffen haben sollen. Wie der Lokalsender Gün TV in Diyarbakir
meldete, wurde inzwischen auch Anklage gegen fünf Teilnehmer einer norwegischen
Menschenrechtsdelegation erhoben, weil sie auf einem Newroz-Fest
separatistische Parolen gerufen hätten.
In mehreren Städten kam es in den vergangenen Tagen auch zu Anschlägen
unbekannter Täter auf Büros der kurdischen Demokratiepartei des Volkes (DEHAP).
Vor allem in den kurdischen Landesteilen wurde vom Militär angewiesen,
öffentliche Gebäude und Offizierswohnungen, aber auch Läden mit türkischen
Fahnen zu beflaggen. Landesweit veranstalteten staatliche Stellen zusammen mit
nationalistischen Parteien wie den Grauen Wölfen der MHP Fahnenmärsche. In der
kurdischen Metropole Diyarbakir stellten neben zwangsweise dorthin befohlenen
Staatsbeamten Soldaten in Zivilkleidung die Masse der Teilnehmer. Einige
Schulklassen bekamen zur Teilnahme an den Demonstrationen schulfrei.